Rihm, Wolfgang

Über die Linie / Coll’ Arco

Verlag/Label: Hänssler Classic CD 93.283
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 76

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

«Ich habe eine Wunschvorstellung von Klang, der ganz seltsam zwischen Härte und Überschwang, dröhnender Kargheit und stählerner Üppigkeit, zwischen Schroffheit und glühender Sinnlichkeit angesiedelt ist. Es sind immer diese beiden Pole, die mich magisch anziehen, und ich suche das eine im anderen. So finde ich im perkussiven Akzent, im Schlag, enorme Sinnlichkeit wieder. Im melodiösen Verströmen suche ich die Härte, die scharfe Klinge, aber die biegsame.»
Eindringliche Worte fand Wolfgang Rihm über das Elementare der Tonkunst, den Klang. Indes, Gültigkeit können sie für Über die Linie II und Coll’ Arco allenfalls bedingt beanspruchen. Nicht, dass Rihm das Recht abgesprochen werden soll, sich zu wandeln, seine Tonsprache zu modifizieren, neue Wege einzuschlagen. Was aber, wenn die «neuen Wege» sich als ausgetreten erweisen? Und was für eine Linie gedachte Rihm zu überschreiten, als er sich im Klangkolorit von Über die Linie II (1999) allzu sehr an «Spätromantik» und «frühe Moderne» annäherte? Gewiss, wunderbare Momente von schwelgerischer Anmut und zarter Entrückung sind in dieser «Musik für Klarinette und Orchester» enthalten; dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass der Sog des Verführerischen dominiert, dass der «Gegenwelt» des reinen Wohlklangs die «Welt» abhanden gekommen ist. Fast wie das Aufbäumen eines schlechten Gewissens mutet da ein erregter, vom Schlagzeug angetriebener Part gegen Ende an, der sich schnell wieder in Wohlgefallen auflöst.
Dass sich Über die Linie II dem – glänzenden – Solisten Jörg Widmann in Gefälligkeit anbiedert, trifft aber nicht zu, da die Herausforderungen gewaltig sind. Zu hören ist das kaum, was uneingeschränkt für Widmann spricht, doch während man sich im Live-Erlebnis an seiner exorbitanten Leistung und dem perfekten Zusammenspiel mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling ergötzen mag, trägt die epische Breite von Über die Linie II auf CD nicht so recht. Dabei haben Rihm und Widmann durchaus das Potenzial, würdig an die extrem fruchtbaren Beziehungen zwischen Komponisten und Klarinettisten, wie sie Mozart und die Gebrüder Stadler oder Brahms und Ri­chard Mühlfeld vorlebten, anzuknüpfen.
Die Geigerin Caroline Widmann, auf ihrem Instrument ebenso profiliert wie der Bruder als Klarinettist, ist die Solistin in Coll’Arco (2008), Rihms «vierter Musik für Violine und Orchester» (Leitung: Eivind Gullberg Jensen). Ihr ist das Stück gewidmet, und ihr Spiel ist schlichtweg betörend. Schade nur, dass sich nach geheimnisvollem Beginn rasch die Fesseln der Tradition um Coll’Arco schlingen – mit Anklängen zumal an Alban Bergs Violinkonzert, das jedoch nicht erreicht wird.
Auch ein Komponist vom Schlage Rihms kann sich glücklich schätzen, für Interpreten wie die Geschwister Widmann zu schreiben; bleibt zu hoffen, dass er in der weiteren Zusammenarbeit mit ihnen seine «Wunschvorstellung von Klang» in neue Bahnen lenkt.

Egbert Hiller