Diedrichsen, Diedrich

Über Pop-Musik

Verlag/Label: Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 468 Seiten, 39,99 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 94

Über Pop-Musik ist Diedrich Diedrichsens Opus magnum. Es ist eine Grundsatzschrift, der Versuch, eine Ästhetik der Pop-Musik zu schreiben, die für Diedrichsen «eine ande­re Sorte Gegenstand» darstellt. Pop-Musik ist mehr als Musik. Sie ist immer nur im «Zusammenhang aus Bildern, Performances, Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen» zu rezipieren. An ihr lassen sich die Mechanismen kapitalistischer Kulturindustrien beobachten. Gleichzeitig führt sie eine «Möglichkeit der Nonkonformität» ein, widersetzt sich gängigen Wertvorstellungen und besitzt womöglich revolutionäres Potenzial. Positiv hervorzuheben ist, dass Pop-Musik für Diedrichsen nicht auf bestimmte Genres limitiert ist. Der Autor begreift sie als dynamisches System, als einen wuchernden Organismus, der unterschiedliche Klänge und kulturelle Begebenheiten hervorgebracht hat und dies nach wie vor tut. Pop-Musik kann alles sein: Grindcore und Black Metal, Improv, klassische und neue Musik, Noise und Folk, Funk und Punk.
Auf eine Einleitung, in der Diedrichsen die Pop-Musik vom Populären und der sogenannten Populärkultur abgrenzt, folgen insgesamt fünf Kapitel, in denen der Theore­tiker sein Thema aus unterschied­lichen Perspektiven unter die Lupe nimmt. Pop-Musik wird aus zeichentheoretischen, ästhetischen, histo­rischen, technischen, linguistischen und schließlich politischen Blickwinkeln betrachtet. Der Autor verteidigt das Thema gegen bürgerliche Diskreditierungen und behandelt es mit einer Ernsthaftigkeit, wie sie leider noch immer nicht selbstverständlich ist.
Gemäß dem Motto, dass Pop-Musik nicht nur unter musikalischen Kriterien zu begreifen sei, setzt Diedrichsen in seiner Analyse Werkzeuge wie Susan Sontags Camp-Begriff, Ideen aus der Filmtheorie oder Psychoanalyse ein. In einem der spannendsten Kapitel des Buchs attestiert er dem Drone-Metal-Gitarristen Stephen O’Malley, eine Musik zu spielen, die der Idee des Lacan’ schen Realen am nächsten kommt, einen Sound erschaffen zu haben, der «ganz ohne Symbolisierungen und Rahmen» auskommt. Diedrichsen bespricht hier die Annektierung von Strategien und Konzepten aus der bildenden Kunst durch die Pop-Musik. Nicht zuletzt ist dieses Kapitel auch so reizvoll, da es viele Musiker porträtiert, die in den letzten 10 bis 15 Jahren durchaus einflussreiche Werke kreiert haben. Sounds von Terre Thaemlitz, den Melvins oder Mike Kelley werden hier besprochen. Anderswo dominieren Bands aus der Jugend des Poptheoretikers, die auf jüngere Leser ein wenig obsolet wirken dürften. Zudem bespricht Diedrichsen auch nicht die aktuellen musikalischen Experimente der Internet-Jugend, die ihre Hochglanzmusik ausschließlich im Netz veröffentlicht.
Nichtdestotrotz ist Über Pop-Mu­sik ein informatives Buch geworden, das komplexe Zusammenhänge durch eine klare Sprache greifbar macht und mit einer interessanten Themenauswahl überzeugt. Es ist eine unterhaltsame Lektüre, die das Potenzial hat, ein Grundlagenwerk zu werden.

Raphael Smarzoch