Röhring, Klaus

Ulrich Gasser – Die aufgehobene Zeit

Eine Monographie in Essays zu Leben und Werk des Komponisten

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2015, 335 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/05 , Seite 82
Dafür, dass in Zeiten einer neuen Unübersichtlichkeit der kritischen Instanz in rebus musicis gelegentlich der Kompass abhanden kommt, liefert die Rezeption des kompositorischen Schaffens von Ulrich Gasser ein geradezu beschämendes Beispiel, zu dem auch eine hämische Volte von Ulrich Dibelius gehört. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass ein so profunder Kenner der musica nova wie der Theologe Klaus Röhring es unternommen hat, die vielschichtige und inspirierte Werklandschaft seines Freundes, die Kompositionen für So­lo­instrumente und Kammer­musik, Chor, Orchester und Vokal­ensemble, Musiktheaterwerke und Mu­sik für Stummfilme, insbesondere aber Oratorien und liturgische Musik umfasst, auszuleuchten. 
Dass zu Gassers Œuvre seit 1981 auch subtil ausgehorchte Musik mit Klangsteinen gehört, bereichert die in diesem Band mit über einhundert ausgewählten Kompositionen behutsam erschlossene Klang-Wunderkammer auf faszinierende Weise. Steine und Landschaften, Bildende Kunst, Poesie und die großen geistlichen und theologischen Themen sind die Inspirationsquellen, aus denen sich Gassers Schaffen vor allem speist. Eindrucksvoll wie der Nachweis solcher Kraftströme ist die methodische Vielfalt der Werkeinführungen, zu der strenge Analysen ebenso gehören wie bildhafte und poetische Zugänge, «denn Gassers Musik ist nicht nur eine rationale, sondern auch eine eminent emotionale» (K. R.). 
Das daraus resultierende Spannungsfeld wird zusätzlich eingefärbt und aufgeladen durch die Zielsetzung des Autors, in einer Melange aus Monografie und Biografie den Zusammenhang von Leben und Werk des Komponisten in den Fokus zu rücken. Darüber hinaus sollen vor allem die essayistischen Kapitel des Buches zeigen, «wie vielfältig Gassers Weltzugang und damit die «Welthaltigkeit» seiner Musik ist» (K. R.). Damit ist der Homo helveticus-politicus angesprochen, als der sich Ulrich Gasser immer auch verstanden hat. Mit Bedacht hat Klaus Röhring daher die «Lebensorte» des Komponisten nicht nur in den beschaulichen Schweizer Bergen, sondern «in aller Welt» thematisiert. Gleichwohl «ist Ulrich Gasser bis heute stets ein Außenseiter geblieben, der [fernab vom Mainstream] seinen konsequenten eigenen Weg gegangen ist und sich nie einer Schule oder einem ästhetischen Konzept angeschlossen hat» (K. R.). 
Fragt man nach den wichtigsten Ingredienzen seines kompositorischen Credos, so wären nach Röhring Gassers Verständnis der auch eschatologisch zu buchstabierenden «aufgehobenen Zeit» – ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet – und die Folie einer alles grundierenden Glaubensästhetik zu nennen. Sie vermittelt sich nicht zuletzt in der Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das nach Gasser alle große Kunst (ver)birgt. Wie Röhring dieses Geheimnis immer wieder umkreist, ohne es – quasi auflösend – beim Namen zu nennen, gehört zu den nachhaltigsten Erfahrungen bei der Lektüre dieses vorzüglich edierten, mit vielen anregenden Abbildungen und einer Fülle von Notenbeispielen ausgestatteten Bandes. Fazit: Ein Buch wie ein Gewitterregen! Chapeau!
Peter Becker