Cerha, Friedrich
Und du / Verzeichnis / Für K
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Hiroshima: Die Komposition «Und du
» lässt dem Zuhörer vom ersten Augenblick an keine andere Wahl, als sich mit dem Thema zu konfrontieren. Durch die Kubakrise wurde 1962 deutlich, wie nah die Welt dem atomaren Overkill war. Der Österreichische Rundfunk beauftragte Friedrich Cerha mit einer Komposition, die, von vornherein über Rundfunk verbreitet, ein möglichst großes Publikum erreichen sollte. Ob dies gelang, ist nicht klar, doch nun liegt das Werk für fünf Sprecher, Chor, ORF Radio-Symphonieorchester, das Ensemble «die Reihe» und Elektronik in der Originalaufnahme auf CD vor, dirigiert von Cerha selbst.
«Ob wir das Ende aller Zeiten bereits erreicht haben, das steht nicht fest
»: Der Komponist mag Recht haben, wenn er schreibt, der am Ende von Günther Anders selbst gesprochene Text sei «das Präziseste, was bis zum heutigen Tag zur atomaren Situation gesagt worden ist und gesagt werden kann». Doch die Menschheit ist geübt im Verdrängen, und nach fast fünfzig Jahren weckt die Mahnung kaum mehr als ein fatalistisches Achselzucken. Insofern ist «Und du
» historisch und wäre auch schwer zu ertragen, stünde dem schwergewichtigen Text nicht eine äußerst feinsinnige, differenzierte Musik gegenüber. Aus einer massiv heranbrandenden Geräuschwolke brechen fein ziselierte Streicherkaskaden hervor, wiederum abgelöst von dissonanten Blechbläsern. Cerha versucht gar nicht, das Thema zu illustrieren, vielmehr sucht er wie zur selben Zeit etwa Peter Weiss im Drama nach einem Umgang mit dem Inkommensurablen. Auf der Textebene geschieht dies in Form einer Zitatmontage und indem wortwörtlich durch Abzählen vorgeführt wird, dass eine Zahl von 80 Millionen Toten die Vorstellungskraft übersteigt. Musikalisch zeigt sich die ganze Meisterschaft Cerhas, der über 39 Minuten hinweg alles zum Einsatz bringt, was avancierte Musik mit Orchester-, Ensemble-, Chor- und elektronischen Klangfarben zu bieten hat.
«Verzeichnis» von 1969, obwohl nur für 16 Stimmen geschrieben, ist kaum weniger komplex und vielseitig und kaum weniger grausam. Der Text entstammt einer Quelle von 1629 wie der Titel besagt, einem «Verzeichnis der Hexen-Leut, so zu Würzburg mit dem Schwerte gerichtet und hernach verbrannt worden». Passagenweise hört es sich an, als ob viele Stimmen wahllos erregt durcheinanderreden, parallel ertönen Gesang, dann wieder dumpfe Schläge.
«Für K» schließlich ist 1993 zum 70. Geburtstag des Bildhauers Karl Prantl geschrieben, von dem auch das Cover-Motiv der CD stammt. Der massive Klang von sieben Blechbläsern und drei Schlagzeugen scheint die Arbeit von Hammer und Meißel in hartem Marmor zu evozieren, Bratsche und Cello stehen für die Splitter, den Abfall, den Staub, der dabei entsteht. Davon abgesehen erzeugt Cerha in diesem Fall Heterogenität durch Überlagerung verschiedener Rhythmen und Tempi. Aufführungstechnisch sicher nicht einfach zu handhaben, doch die Musiker des ORF Radio-Symphonieorchesters, wiederum unter der Leitung von Cerha, meistern das Stück bravourös.
Dietrich Heißenbüttel