Dollinger, Christina

Unendlicher Raum – Zeitloser Augenblick

Luigi Nono: "Das atmende Klarsein" und "1° Caminantes ... Ayacucho"

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2012
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 92

Warum sind im Abstand von nur zwei Jahren im selben Verlag zwei Analysen der gleichen Komposition erschienen und warum wird das frühere Buch im späteren nicht erwähnt? Man muss Christina Dollingers Literaturverzeichnis (2012) sehr aufmerksam lesen, um den Hinweis zu finden, dass Elfriede Elisabeth Reissigs Dissertation schon 2007 in Graz verteidigt wurde und zwar unter dem Namen Elfriede Elisabeth Moschitz – über beides gibt ihr eigenes Buch keine Auskunft. So ist die Arbeit auch im Archivio Luigi Nono in Venedig einzusehen gewesen, bevor sie 2014, im Jahr des 90. Geburtstags von Nono, veröffentlicht wurde. Vermutlich wurden keine Aktualisierungen vorgenommen.
Die Autorinnen sind beide doppelt begabt und wurden in Musikwissenschaft über Luigi Nonos Das atmende Klarsein (1981/83) für Bassflöte mit Live-Elektronik und Chor promoviert, einer Besetzung, bei de­ren Analyse sie als Flötistin (Dollinger) und Chorleiterin (Reissig) auch ihr jeweiliges musizierpraktisches Wissen einfließen lassen konnten. Beide haben Skizzen zur Werkentstehung einbezogen und teilweise veröffentlicht. Beide Arbeiten sind sachlich, deskriptiv verfasst und damit nicht im poetisierenden Essayismus, der die sogenannte «Wende» im Schaffen Nonos nach dem Streichquartett mu­sikpublizistisch begleitete.
Christina Dollingers Analyse ist konzise und ergebnisreich. Sie liest sich nicht nebenbei, die Autorin ist gut über Nonos Kompositionstechniken informiert. Dollinger zeigt, dass die «Dramaturgie» der Flötenteile ein sukzessives Vorstellen der damals für Nono neuen live-elektronischen Techniken (S. 56 ff.) sowie der erweiterten Spieltechniken für Bassflöte (S. 67) ist. Leider ist auf S. 68 ein Notenbeispiel doppelt abgebildet, so dass ein anderes fehlt, und auch die Bezeichnung der Obertöne als «Dur-Akkorde» ebenda sollte problematisiert werden. Denn die Autorin weist sehr aufschlussreich auf verschiedene Überlegungen Nonos in den Skizzen hin, Reihen nach Minutendauern zu erstellen, den Rhythmus in Reihen zu organisieren, Auszüge aus der Allintervallreihe zu verwenden, serielle Verfahren wie Krebsgänge einzuflechten und Taktanzahl oder Tonhöhenfolgen symmetrisch zu organisieren, kurz: auf Techniken aus seiner seriellen Kompositionsphase zurückzugreifen, nicht zuletzt auf die Zahl 12. Nicht nur Dollingers Ar­beits­hypothese zufolge gibt es einen größeren Zusammenhang zwischen Das atmende Klarsein und Folgekompositionen, den sie überzeugend nachweist. Ein Großteil der Arbeit ist 1° Caminantes … Ayacucho (1987) gewidmet und beider Stücke Zusammenhang. Die zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit verfügbare Sekundär- und Primärliteratur wurde vollständig eingesehen und ist aufgeführt.
Elfriede Elisabeth Reissig (Moschitz) hingegen wählt die schlanke Variante und verweist tatsächlich nur auf die Arbeiten, die sie auch zitiert. Sie stellt als Ergebnis ihrer ausführlichen Analyse der Textverteilung und Intervallfolge in den Chorsätzen eine Herkunft aus dem einstimmigen Klangdenken und eine Tendenz der mehrstimmigen Chorpartien zur Linearität fest (S. 173). In den Flötenteilen weist Reissig auf verschiedenen Ebenen einen symmetrischen Aufbau nach, der immer wieder durchbrochen wird. Interessantes könnte für nachfolgende Forscher auch ihre Idee zeitigen, den Gebrauch bzw. die Vermeidung von Oktaven in Nonos Kompositionen genauer zu betrachten. An dieser Stelle überrascht, dass sie konsequent vermeidet, auf Nonos serielle Kompositionstechnik der fünfziger Jahre einzugehen. Stattdessen werden Exkurse zur Musik Monteverdis und Gesualdos sowie Beethovens vorgenommen, die Nono in den frühen achtziger Jahren bekanntermaßen beschäftigte.
Allerdings erwähnt die Autorin trotz ihrer Archivstudien nicht, ob in Nonos nachgelassenen Partituren der von ihr besprochenen Werke Anstreichungen zu finden sind, oder begründet ihren Exkurs zu den ausgewählten Stücken mit Äußerungen des Komponisten. Als bloßer Wissenschaftler vermisst man hier die Systematik: Beispielsweise ist es wertvoll, dass der Kontext von Teilen der Textvorlage, den sogenannten «orphischen Goldblättchen», erläutert wird, doch muss man bei Hella Melkert nachschlagen (S. 15, Fn. 20), die in ihrer Dissertation 2001 die Chorpartien schon eingehend untersuchte – das ist also die 3. Dissertation zu Das atmende Klarsein bei Pfau! –, dass in Nonos Nachlass das Buch vorhanden ist, in dem die verwendeten Texte abgedruckt sind. Die Texte sind ohnehin von Massimo Cacciari zusammengestellt, auf dessen genaue Zusammenarbeit mit Nono wenig eingegangen wird. Immerhin veröffentlicht Reissig einen Brief Cacciaris an den Komponisten im Anhang.
Kleinere Ungenauigkeiten im Satz sind dem Verlag anzurechnen, einige unausgeführte Begriffe, wie «Proxemik» ohne einen Exkurs zum Raumbegriff, hätten von den Betreuern moniert werden müssen, aber die Autorin selbst hätte das Sterbejahr Nonos mit 1990 angeben und auf die korrekte Schreibweise der Werktitel achten sollen (¿Donde estás hermano? 1982, S. 56, Prometeo statt «Prometheus» etc.). Hilfreich für aufführungspraktische Zwecke werden ihre Hinweise auf Fehler in den Partiturausgaben sein (z. B. S. 203, Fn. 13).
Anlässlich von werkanalytischen Betrachtungen verspürt man im Laufe der Lektüre von mehreren hundert Seiten irgendwann den Wunsch nach einer klaren Analysefrage, die beantwortet werden könnte. Analyse als Selbstzweck, zum tieferen Verständnis eines «Meisterwerks», ohne strukturierende Interpretation der Ergebnisse ist nur für den Analysierenden interessant, nicht für den Lesenden. Das trifft auf die hier besprochenen Bücher aber keineswegs zu, denn es sind – einander ergänzende – erfolgreiche wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, die als zwei Beiträge zur Nono-Forschung dieses Feld weiter bringen. Die Komposition entstammt dem Umfeld des Prometeo, und so sind diese Arbeiten auch für eine Beschäftigung damit heranzuziehen. Bi­bliotheken mit einem Sammlungs­schwerpunkt «Nono» oder «Analyse», die Reissigs «neuere» Arbeit anschaffen, ist unbedingt zu empfehlen, auch Dollingers bereits 2012 erschienene Arbeit dazuzukaufen.
Julia H. Schröder