Koch, Sven-Ingo

Ungleichzeitiges / Der Durchbohrte / Die Überwindung des großen Klaffens / les asperges de la lune / und.weit.flog.

Verlag/Label: Wergo WER 65732
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 90

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 3
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

 

Es beginnt mit der reizvollen Kombination von Cembalo und zwei Klarinetten: wahrhaft Ungleichzeitiges – wie der Titel der Komposition lautet. Dazu wundervoll transparente Perkussionsklänge, Viola und Cello, spar­sam eingesetzt ein Harmonium und eine Orgel, aber auch zwei Trompeten und eine Posaune, die mit ihrer ungleich kräftigeren Dynamik für kurze Momente alles zukleistern. «Dissonante Montage» nennt Sven-Ingo Koch das Prinzip, das er aus seinem USA-Aufenthalt ableitet, bei dem ihm ganz andere Töne ans Ohr drangen, als er es von seiner kompositorischen Ausbildung in Europa gewohnt war. Dissonanzen im Sinn von Sekund­reibungen sind allgegenwärtig, doch Koch meint nicht nur die Frequenzverhältnisse, sondern auch die Heterogenität des Materials.
Dazu gehört beispielsweise, dass er in die Orchesterkomposition und. weit.flog. gleich die biografische Erfahrung, die zu der Komposition Anlass bot, als gesprochenen Text mit einmontiert – freilich durch Ein- und Ausblenden musikalisch verfremdet. In Der Durchbohrte für solistisches Schlagzeug, einige Bläser und Streicher sowie E-Gitarre ist es ein Höllengesang aus Dantes Göttlicher Komödie, in Die Überwindung des großen Klaffens, sechsstimmig komponiert für die Stuttgarter Neuen Vocalsolisten und die Live-Elektronik der Digital Masters, eine Passage aus Hesiods Theogonie in griechisch und deutsch. Mag der Text nicht durchweg verständlich erklingen, da er selbst als Musik behandelt wird: der Horizont klassischer Bildung ist unüberhörbar. Und der Abgrund, den Hesiod besingt, scheint sich nicht nur in den fallenden Glissandi der Vokalsolisten mitzuteilen: Er bezeichnet die Fallhöhe, vielleicht auch die Angst vor dem Sturz, die denjenigen ereilt, der von einer Insel klassischer Bildung auf die Niederungen des Alltags herabschaut. Koch gibt sich entschlossen, diese Begegnung auszuhalten und das seiner Welt Fremde, Heterogene in die Komposition mit einzubeziehen. Von Rap-Rhythmen bleibt dabei allerdings – wieder in und.weit.flog. – bestenfalls ein Akzent, der das Orchesterwerk gliedert. Alles Fremde ist anverwandelt, das Ergebnis klingt durchweg nach aktueller neuer Musik.
Koch ist ein Meisterschüler, der mit allem hantiert, was derzeitige Kompositionstechnik zu bieten hat: mikrotonale Cluster, instabile Tonhö­hen, ansprechende Eigenerfindungen wie die fein abgestimmten Aluminium-Töpfe in Der Durchbohrte, elektronische Transformationen, bis hin zu den Mehrklängen der Klarinette am Ende des Solostücks les asperges de la lune. Die biografische Erfahrung bleibt anekdotisch, zu den Niederungen des Alltags wahrt Koch die Distanz.

Dietrich Heißenbüttel