Schwitters, Kurt

Ursonate und andere konsequente Dichtung

Verlag/Label: Wergo WER 63162
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/05 , Seite 75

Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 5

Booklet: 5

 

Sprechbohrer. Das klingt sehr nüchtern, wissenschaftlich, experimentell. Trotzdem wirken die Arbeitsergebnisse des Sprechbohrers angenehm leichtfüßig, emotional, lyrisch. "Der" Sprechbohrer ist allerdings nicht ganz korrekt, handelt es sich doch bei dem "phonetisch-musikalischen Sprachkunsttrio" um eine Interpretationsgemeinschaft, der als Name kein Artikel vorangestellt werden sollte. Sigrid Sachse, Harald Muenz und Georg Sachse rezitieren das poetische Werk des Universal- und Merzkünstlers Kurt Schwitters, der als radikaler Sprachartist nicht nur die ursonate (1923–32) verfasste, sondern auch andere expressionistische und konsequente Dichtung herstellte.

Was wären Ernst Jandls "Lautgedichte" und Hans G Helms’ Fa:m’ Ahniesgwow ohne die Vorarbeiten von Kurt Schwitters in dessen ursonate? Schwitters legte in seinen Lautgedichten nicht nur Wert auf eine Reduktion der Sprache und ihrer Klangeigenschaften, sondern erschuf als Konsequenz daraus völlig neue Wörter, deren Bedeutung auf den ersten Höreindruck willkürlich und sinnlos erscheint. Wie diese scheinbar willkürlich vorgenommenen Buchstaben aneinanderreihungen ihre akustische Form gewinnen – Sprechbohrer demonstriert in klar formulierten und akzentuierten, ja, distanzierten und deshalb so überzeugenden Interpretationen das scheinbar nonsensverdächtige Sprachkonvolut eines kompromisslosen Freigeistes. Obwohl Kurt Schwitters bis heute als authentischer Interpret seines Textmaterials gilt, kommt ihm Sprechbohrer mit einer konsequenten und glasklaren, "sprechbohrenden" Sprachverarbeitung auf die Spur.

Sprechbohrer begnügt sich nicht mit der reinen Werkinterpretation, vielmehr gelingt dem Trio eine spannende, sprachartikulierend hochstehende Qualität der Texte, mit der vermutlich auch der Urheber einverstanden gewesen wäre. Insbesondere die Werke, die sich noch auf konkrete Wörter und Zahlen und deren Aneinanderreihung beschränken, bekommen durch eine Dreistimmenausstattung eine zusätzliche Bereicherung. Penibel strukturierte Rhythmen oder freie Assoziationen, Schwitters’ Sprachklanggerüste vermitteln auf scheinbar primitive Art einen Zugang zu den Möglichkeiten einer Konversation auf einer andere Ebene.

Laut-, Zahlen-, Buchstabengedichte belegen durch ihre Simplizität, dass unsere Sprache aus "elementaren", einzelnen Zeichen zusammengesetzt ist. "Konsequente Dichtung" ist die höchstmögliche Zerkleinerungsformel, die von Sprechbohrer nahezu perfekt im Schwitters’schen Sinne gestaltet wird. Neben dem korrekten Atmen und einer deutlichen Artikulation erfordert die Interpretation der Lyrik von Kurt Schwitters ein tiefes Empfinden für Akrobatik im Mundraum und ein Hineinversetzenkönnen in die Banalität des Alphabets und der Zahlen. Ob ursonate oder Bildgedichte, Nonsenslyrik oder Zahlenwirrwarr – so meisterhaft wie Sprechbohrer hat vorher kaum ein anderes Ensembles Inhalt und Geist von Kurt Schwitters’ Poesie rezitiert.

Klaus Hübner