Moe, Ole-Henrik

Vent Litt Lenger

Verlag/Label: Aurora ACD 5054
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 80

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 3
Gesamtwertung: 3


Kaum einen Hauch spürte Goethes abendlicher Wanderer über den Wipfeln des Waldes: Um dieses Erlebnis nachvollziehen zu können, muss der Mitteleuropäer heute schon bis nach Norwegen reisen. Ole-Henrik Moe scheint es in seinem dreisätzigen Streichquartett zunächst darauf anzulegen, eben jenen Moment nahezu vollständiger Ruhe wachzurufen, in dem kaum der Hauch eines Bogenstrichs die Saiten berührt. Erst nach vier Minuten, als ein heftiger Ausbruch des Kratzens und Schabens erstmals die Stille unterbricht, kann sich der Hörer der CD wirklich sicher sein, dass der Tonträger bespielt ist und die Stereoanlage noch funktioniert. Es sind immer irisierende Klänge mit hohem Geräuschanteil, gleitend-fließend, in ständiger Bewegung, welche Moe dem zu einer einzigen Klangquelle verschweißten Streichquartett entlockt: erst kaum oberhalb der Hörschwelle, dann wieder in gleißendem Licht.
Im zweiten Satz ändert sich daran wenig, bis auf die Anordnung: Es beginnt diesmal schrill, fast an der Schmerzgrenze, um dann später in umso längere Perioden des Beinahe-Verstummens zu verfallen. Wer hier schon geneigt ist, aufzugeben, erlebt dann im dritten Satz, in dem Moe selbst mitspielt, eine Überraschung: Vom ersten Moment an setzt sich eine quietschende, ohrenzerreißende Maschinerie in Gang, die, gleichsam schlecht geölt, manchmal ächzt und stöhnt, aber bis zur Mitte des 14-minütigen Satzes brav durchhält, bis sie auf einmal den Geist aufgibt. Nunmehr jault und klagt es nur noch, alles scheint aus den Fugen geraten, doch nach einer Weile hebt plötzlich ein infernalisches Geschnatter an, das, wenn auch in sich bewegt und nicht gleichförmig, doch eine ganze Zeitlang anhält und nur langsam ein wenig verebbt. Dann ist der Sturm schlagartig vorbei, und in der verbleibenden Zeit ist nichts weiter zu hören als das entfernte Heulen des Windes in den Zweigen der Bäume.
Es versteht sich, dass diese unvermittelt von einem Extrem ins andere umschlagende Geräuschorgie minutiös notiert, bis ins kleinste Detail vom Komponisten festgelegt ist und nur von Meistern wie dem Arditti Quartet bewältigt werden kann. Ja, vermutlich ist nur Moe selbst in der Lage, jenes unablässig vorwärtstreibende, peitschende Schwirren im dritten Satz hervorzubringen, das kaum mehr an eine Violine denken lässt. Dennoch: wo im Konzert der annähernde Stillstand der langen, leisen Passagen eine starke Spannung erzeugen mag, bleibt beim Anhören der CD nur das angestrengte Lauschen, ob sich überhaupt noch etwas tut: keine Musik, die sich im Wohnzimmer auf Tonträger erschließt, es sei denn als ferne Ahnung oder Erinnerung an ein Konzerter­lebnis.

Dietrich Heißenbüttel