Rühm, Gerhard
Verlautbarungen
Litaneien, Lautgedichte, Sprechduette 1952-2010
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Auch über achtzigjährig wird Gerhard Rühm nicht müde, Stimme und Sprache in immer neue Verhältnisse zu bringen. Eine wunderschöne Retrospektive des stimmlichen Schaffens des Wiener Rundum-Experimentators und Grandseigneurs der Lautpoesie gewährt diese Veröffentlichung in schönstem Reclam-Gelb vieles taugt hier ja durchaus zum «Klassiker». Rühms Glaubensbekenntnis (1973) beispielsweise, das ein augenzwinkerndes Bekenntnis zur Empirie ist: «ich bin überzeugt, dass es eine zwiebel gibt. / ich glaube, dass man eine zwiebel teilen kann». Am Ende wird klar, dass man im Ton weihevoller Verkündigung der Entstehung eines Rühreis beiwohnt.
Dass der Glaube ein sprengstoffhaltiges Kardinalthema in Rühms Arbeit darstellt, an dem seine Fantasie sich immer wieder kritisch entzündet, offenbart sich in den Litaneien mit abgrundtiefer Gnadenlosigkeit. In Der Wallfahrt Lohn (2005/2007) erzählt Rühm «Pilgerballaden» als verheerende Unglücksfälle, wo ganze Busladungen junger Menschen auf dem Weg zu Gott verunglücken. «gut bist du und gerecht, / zeitlebens dankt dein knecht.» Solche und ähnliche interpolierte Verse bleiben einem geradewegs im Halse stecken.
Die Auswahl der Lautgedichte zeigen Rühm als virtuosen Sprachperformer, der vielzüngig, aber nie übertrieben exaltiert am Werk ist. Sie beginnt mit den Expressionen aus den frühen 1950er Jahren, die weniger an den Dadaismus anknüpfen als den Versuch darstellen sollen, Elemente des «Tachismus» auf die Poesie zu übertragen, und sich dabei vom (atonalen) Aphorismus Weberns beeinflusst zeigen. Noch mehr als in den verspielt sich selbst reproduzierenden Erzählungen und Miniatur-Dramen blitzt im (scheinbar) abstrakten Spiel mit den Grundelementen der Sprache Rühms ganze Tiefgründigkeit auf.
Eine äußerst gelungene Hybris narrativer und asemantischer Verfahren bilden die melodramatischen Sprechduette, denen sich Rühm zusammen mit seiner Frau Monika Lichtenfeld in den letzten zehn Jahren verstärkt gewidmet hat. Ihnen liegen zumeist in strenger rhythmischer Deklamation vorgetragene Zeitungsnotizen zugrunde, die von einer zweiten Stimme, welche das Sprachmaterial auf rein phonetische Weise filtert und fragmentiert, begleitet wird. Eine Laut-Kontrapunktik sozusagen, die das verstörend sachlich Erzählte durch Abstraktion emotional einfärbt bzw. strukturell kommentiert, wodurch eine faszinierende Einheit von Form und Gehalt erzielt wird. Da kann es je nach zugrunde liegender Anekdote sehr komisch zugehen wie in Schweine, Menschen, Engel (2001), aber auch schonungslos brutal wie in Glaube Liebe Hoffnung (2002), das den fundamentalistischen Auswüchsen der großen Weltreligionen auf der Spur ist: «israelische siedler auf palästinensischem gebiet haben leichenteile von selbstmordattentätern mit schweinefett verunreinigt, damit diese nicht ins paradies gelangen» vorgetragen im Ton eines Kinderreims, in den konsonantische Lautfetzen hineingeworfen werden wie erstickte Kundgebungen einer nicht mehr möglichen Entrüstung
Dirk Wieschollek