Vermilion Traces | Donaueschingen 2009

Verlag/Label: 2 CDs, Leo Records, LR 653/654
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 88

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Die Zusammenarbeit des Komponisten Gerhard E. Winkler mit dem Trio des Klarinettisten und Saxofonisten Frank Gratkowski (mit dem Pianisten und Elektroniker Chris Brown und dem Schlagzeuger William Winant) entstand anlässlich der NOWJazz Session der Donaueschinger Musiktage 2009. Winkler beschäftigt sich schon seit längerer Zeit mit der Generierung von Echtzeitpartituren. Für seine Komposition Bikini.Atoll fand er in den drei Improvisatoren, die zugleich versiert sind im Spiel komplexer notierter Partituren, hervorragende Interpreten.
Winkler sucht in seiner Musik quasi ein Äquivalent zur Zerstäubung der Natur unter dem Einfluss von Atomversuchen. Spaltklänge – mittels Granularsynthese bearbeitete, mikrotonal trans­ponierte und überlagerte, im Raum verteilte Klänge der Instrumentalisten – stehen im Zentrum des Werks. Die Musiker spielen zum Teil exakt Notiertes, an anderen Stellen improvisieren sie frei in Interaktion mit der Elektronik, die durchgehend auf die gespielten akustischen Klänge reagiert. Die Übergänge verlaufen organisch. Die «elektronische Zerstäubung» nimmt im Laufe des Stücks zu.
In Bikini.Atoll hat Winkler seine Idee weitergetrieben, eine Komposition als eine Keimzelle zu entwickeln, deren «Wachstum» nicht exakt vorhersehbar ist. In diesem Fall sind es nicht nur die computersimulierten dynamischen Syste­me, die Unvorhersehbarkeit verursachen, sondern auch die Interaktionen der Musiker, die in diesem Falle und erstmals in einer Komposition Winklers nicht ausschließlich als Interpreten, sondern zugleich als versierte Improvisatoren agieren: offene Form, neu gedacht.
Track 2 und 3 der zweiten CD enthalten die während des Donaueschinger Konzerts gespielten freien Improvisationen des Trios. Die erste CD versammelt freie Improvisationen des Trios, die während der Sessions im Baden-Badener SWR-Studio aufgenommen wurden. Komplexe Schichtungen klanglicher und rhythmischer Natur nehmen mal hohe Dichte ein, dann wieder erscheinen sie in ruhiger Textur, fallen auseinander in einzelne aufeinanderfolgende Aktionen. Dichte- und Energieniveaus wechseln durchdacht, laufen oft gegenläufig zueinander. Pointillistisch Pausendurchsetztes hat ebenso seinen Platz wie langgezogene lineare Entwicklungen. Zusätzliche Verschiebungen zum an sich schon klanglich reichhaltigen Spiel der drei Improvisatoren erzielt Chris Brown mittels subtilen Live Processings.

Nina Polaschegg