Vienne et après …

Werke von Hans Werner Henze, Jörg Widmann, Peter Ablinger, Karlheinz Stockhausen, Wolfgang Rihm und Anton Webern

Verlag/Label: Tessitures tes#001
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 2

«Vienne»: Damit wird in der CD-Veröffentlichung des texanischen Pianisten Christopher Guzman die Zweite Wiener Schule angesprochen, vertreten durch eine luzide Interpretation von Anton Weberns Variationen op. 27. Das im Titel anschließende «après» ist nicht kausal, sondern rein chronologisch zu verstehen, denn in Schönberg- oder Webern-Nachfolge stehen die übrigen Einspielungen kaum. Offenbar ist es Guzman bei seiner Werk-Auswahl darum zu tun, eine Vielfalt unterschiedlichster Gestaltungsweisen in der Klaviermusik der jüngeren Vergangenheit zu durchmessen.
Unter den in Guzmans Programm vertretenen Komponisten weist Karlheinz Stockhausen noch am ehesten Verbindungsfäden zum Schönberg-Umkreis auf, wenn auch sein Klavierstück Nr. 9 nicht mehr auf seriellen Pfaden wandelt. Die aus Akkordrepetitionen bestehenden Passagen der Komposition lässt Guzmans Interpretation zur Studie werden, wie Gleichförmigkeit in Differenz umschlägt, und kontrastiert deren mechanischen Lauf immer wieder mit improvisatorisch-freien, sich zum Vogelstimmenkonzert entwickelnden Passagen.
Einen ganz anderen Bezugspunkt haben Hans Werner Henzes Lucy Escott Variations von 1963, die als Huldigung an die italienische Oper entstanden. Zwischen sanft wogenden Arpeggien erscheint eine Vision der Arie «Come per me sereno» aus Bellinis Somnambula, wie sie einst die berühmte Londoner Diva Lucy Escott interpretiert haben mag: ein Bekenntnis Henzes zum Melos in einer Zeit, als die Avantgarde ganz andere Wege einschlug.
Ebenso weit in die Vergangenheit taucht Jörg Widmann mit seinen Elf Humoresken ein, mit denen er die Idee des poetisch inspirierten Charakterstücks aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart transportiert. Direkten Bezugspunkt bildet Schumann, was schon an wörtlich übernommenen Überschriften wie «Waldszene», «Fast zu ernst» oder «Warum» abzulesen ist. Den Humor als «das umgekehrt Erhabene» im Sinne Jean Pauls und Schumanns lässt Guzmans Spiel in Widmanns Miniaturen aufblitzen: mit Kapriolen, überraschenden Wendungen und Verfremdungen von
vertraut Scheinendem. Mit Wolfgang Rihms Tombeau aus dem Jahre 1975 ist im Spektrum der CD ein Stück Neo-Expressionismus vertreten, das mit Topoi der Vergangenheit wie Trauermarsch, Chaconne und Choral spielt.
Den Rahmen der reinen Klaviermusik überschreiten schließlich drei Stücke aus Peter Ablingers als «Work in progress» entstehendem Zyklus Voices and Piano. Faszinierend ist, wie Ablingers pianistische Übermalungen von Sprachdokumenten berühmter Personen – abseits aller semantischen Bezüge – vom Sprechduktus ausgehen, diesen strukturell analysieren und dann pianistisch überhöhen. Die hektische Erzählweise von Jorge Luis Borges, Schönbergs österreichisch gefärbtes, kurzphrasiges Englisch und die längeren fließenden Perioden Josef Matthias Hauers werden in ihrer individuellen Charakteristik erfasst und musikalisch zugespitzt.

Gerhard Dietel