Feldman, Morton

Violin and Orchestra

Verlag/Label: ECM New Series 2283
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Während der vergangenen Jahre hat Carolin Widmann mit ihren CD-Einspielungen einen weiten musikalischen Bogen gespannt, der von Werken Schuberts und Schumanns bis hin zum Schaffen von Sciarrino, Xenakis und Rihm reicht. Nun lässt sie Morton Feldmans außergewöhnliche Komposition Violin and Orchestra von 1979 folgen, nachdem sie 2009 bereits dessen aus derselben Zeit stammendes Duo Spring of Chosroes für Violine und Klavier aufgenommen hatte.
Dass es sich bei Violin and Orchestra nicht um ein Konzert im herkömm­lichen Wortsinn handelt, die Violinistin sich vielmehr als Klangfarbe in die vielgestaltigen orchestralen Texturen einfügen muss, macht gleich der Beginn deutlich: Präzise und klar erblüht unter Emilio Pomáricos Händen das orchestrale Gewebe, wird zunächst ein im Piano vielfach abgestufter flächiger Ereignisverlauf entfaltet, der – ausgehend von gehaltenen Klängen – durch Ostinati an Vorwärtsdrang gewinnt. Später wiederum erlangt er durch Impulse, die in Gestalt mikrointervallischer Verzweigungen durch die Stimmen wandern, an räumlicher Tiefe, sodass die Musik wie eine ständig im Wandel begriffene Skulptur erscheint, deren Zustände zwischen unterschiedlich formulierten Arten des Stillstands und des Vorwärtsschreitens pendeln.
Um diese Wirkungen hervorzubringen, befragt Feldman immer wieder andere Instrumente oder orchestrale Gruppen, behält jedoch über weite Strecken hinweg einen leicht aufgerauten, manchmal gar etwas spröde wirkenden Orchesterklang bei, der in der vorliegenden Aufnahme sehr plastisch wirkt. Zwar wird der Hörer immer wieder mit Elementen konfrontiert, die er bereits zu kennen glaubt, sodass gelegentlich das Gefühl von Vertrautheit aufkommt, doch hebelt der Komponist mit unvorhersehbaren Wechseln und Veränderungen jede Spur zielgerich­teten Fortschreitens aus und ersetzt es durch eine Situation des Umherschweifens.
Als eines von vielen Instrumenten fügt sich die Solovioline in diese Vorgänge ein und bewegt sich zwischen den wechselnden Farbfeldern des Werks, ohne jedoch durch vordergründige Virtuosität aus diesem Kontext herauszutreten. Dabei fällt Widmanns phänomenale Wandlungsfähigkeit bei der Darstellung kleinster Details des herausfordernden Parts auf: Erstaunlich ist es, mit welch hohem Maß an klanglicher Sensibilität die Geigerin immer wieder andere, dynamisch oder klanglich fein abgestufte Nuancen erzeugt, mit welcher Sicherheit sie in knapp formulierten, engen oder weiten Glissandobewegungen den Tonraum durchschreitet, Doppelgriffe anstimmt und extreme Sprünge ausführt, ohne dabei jemals eine Spur von Unruhe spüren zu lassen.
Trotz einer Spieldauer von fünfzig Minuten bleibt das Werk ungemein abwechslungsreich. Nicht zuletzt deshalb ist Widmanns Neueinspielung ein adäquater Ersatz für die 2004 erschienene Live-Aufnahme von Isabelle Faust mit dem BR-Symphonieorchester unter Peter Rundel, die bereits seit geraumer Zeit nicht mehr im regulären Handel erhältlich ist.

Stefan Drees