Widmann, Jörg

Violin Concerto | Antiphon | Insel der Sirenen

Verlag/Label: Ondine ODE 12152
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 79

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Jörg Widmanns 2007 entstandenes Violinkonzert evoziert in seiner Konzeption die gesamte prägende Literatur für Solovioline des 20. Jahrhunderts: Der expressionistische Gestus von Bergs Violinkonzert wird beschworen, die beklemmende Atmosphäre aus Karl Amadeus Hartmanns Concerto funebre lauert bedrohlich, und die gleiche unbedingte Mitteilsamkeit der Konzerte Schostakowitschs motiviert auch hier jeden Ton – die Schlüsselreferenz bildet aber Sibelius’ 7. Symphonie mit ihrer engen motivischen Verflechtung, in der Original und Ableitung nicht mehr zu unterscheiden sind.
So bildet das Grundmoment von Widmanns Violinkonzert ein ununterbrochener Monolog von fast dreißig Minuten Dauer, der im Kern auf im­mer denselben Schlüsselintervallen und Grundharmonien aufbaut. Das Kippen von Tonalität in Atonalität und umgekehrt lässt den Hörer immer wieder im Dunklen darüber, wohin die Reise führt. Unheimlich wird es, wenn der schier endlos scheinende Tonfluss, in den sich die Geige hineinfantasiert, plötzlich durch eine Generalpause unterbrochen wird. Auf diese Zäsur läuft alles hinaus, sie ist für Widmann Ausdruck des Vergänglichen und Unvermeidlichen, das untrennbar mit der Schönheit aller diesseitsverhafteten Weltseligkeit verbunden ist.
Dazu im direkten Widerspruch steht Antiphon von 2007/08, das jegliche Art natürlicher Entwicklung zugunsten eines krass formalistischen, schroff schrittweisen Fortschrittsentwurfs negiert. Eine brutal verstümmelte Ästhetik ist das Resultat einer einseitigen Logik, die nur das auf dem Papier Geschriebene interessiert, die aber für das klangliche Ergebnis blind bleibt. Es entstehen zerklüftete Kontraste ohne Moderation. Ruckartige Bewegungen und ungelenke, dafür umso insistierendere Rhythmik gemahnen an Strawinskys Sacre.
Ganze zehn Jahre vor der getrennten Ausformulierung dieser beiden widerstreitenden ästhetischen Pole hat Widmann sie noch in einer Komposition vereinen können, auch wenn sie damals bereits heftig in ihre jeweils eigene Richtung zerrten. Insel der Sirenen lebt von diesem Spannungsverhältnis; immer wieder bricht der Konflikt aus dem See verwischter Flageolettklänge hervor. Widmann wählt bewusst die gefahrvolle Atmosphäre des antiken Sirenenstoffes, in der extreme Dramatik in der Luft liegt, um die Dialektik auszutragen: Geräuschhafte Aktionen überwiegen, die Physiognomie der Tongestalten bleibt vage, und jeder Ausbruch der Solovioline gerät verzweifelt verheißungsvoll und entweicht dann doch wieder ins Ungreifbare. All diese Nuancen spielt Christian Tetzlaff mit einem Ton, der wie gewohnt maßgebend ist, egal ob er passend näselt, bisweilen schnarrt, pfeift, verführerisch säuselt oder lyrisch ausbalanciert daherkommt.

Patrick Klingenschmitt