Jentzsch, Wilfried

Visions

Lumière cendrée / Apokalyptische Vision 2000 / Kyoto Bells / Trance oder Lamento di Bali

Verlag/Label: artist.cd ARTS 8105 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2005/04 , Seite 83

musikalische wertung: 5
technische wertung: 5
repertoirewert: 5
booklet: 3
gesamtwertung: 4

Ganz verschiedene Erfahrungshorizonte fließen oft in einer Künstlerbiografie zusammen und verbinden sich zu einer eigenwilligen geistigen Physiognomie. Bei dem 1941 in Dresden geborenen Wilfried Jentzsch sind die Jugendeindrücke bis heute nicht verblasst, die er in seiner Zeit als Mitglied des Dresdner Kreuzchors sammeln konnte; überlagert wurden sie freilich durch seine späteren Kompositionsstudien, die bei Rudolf Wagner-Régeny und Paul Dessau begannen und ihn dann zur elektronischen Musik zogen. Einer Weiterbildung bei Hans Ulrich Humpert an der Kölner Musikhochschule folgte ein mehrjähriger Parisaufenthalt, der ihn zu Iannis Xenakis und in das von Pierre Boulez gegründete IRCAM führte.
Traditionsbewusstsein und avancierte Musiktechnologie begegnen sich in den Kompositionen von Wilfried Jentzsch und finden zu einer spannungsvollen Verbindung. Nicht Dekonstruktion des Alten ist das Ziel, sondern sein Aufbewahren, seine Entfaltung und Weitung durch Hinzufügen neuer Dimensionen. Das kann lustvoll verspielt geschehen wie in den Kyoto Bells, die Jentzsch im Auftrag der Stadt Kyoto zu deren 1200-Jahr-Feier 1994 schuf: Ein Werk, dessen Ausgangsmaterial von vier japanischen Glöckchen stammt, deren Klänge in einzelne Impulse zerlegt oder zu sich im Raum bewegenden Flächen geweitet werden.
Die algorithmischen Verfahrensweisen, mit denen Jentzsch diese Effekte erzielt: sie müssen den Hörer nicht im Detail beschäftigen – so wenig, wie die Analyse einer Bach’schen Fuge notwendig ist, um deren ästhetische Stimmigkeit im hörenden Nachvollzug empfinden zu können. Nicht bei den Kyoto Bells, nicht bei Trance, das auf Aufnahmen indonesischer Gamelan­musik basiert, und auch nicht bei Lumière cendrée, einer akustischen Entsprechung des «Widerscheins des Lichts der Erde auf dem Mond, gesehen von der Erde aus».
Am beeindruckendsten von den vier auf der vorliegenden CD wiedergegebenen Stücken wirkt die Apokalyptische Vision 2000 für Chor, Sprechstimme und elektronische Klänge. Das vom Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik in Auftrag gegebene Werk nach Texten aus der Offenbarung des Johannes verschränkt elektronische Teile, Rezitative und Chöre, die sich unter Einbeziehung von An­spielungen auf Johann Sebastian Bachs Musik zu einem imaginären Klangraum von kosmischer Dimension weiten. Ob beabsichtigt oder nicht: Jentzschs Werk lässt den Hörer auch ganz konkret an den Untergang Dresdens im Bombenhagel des Februar 1945 denken. Eröffnet wird es vom Klang der Gebetsglocke der Dresdner Kreuzkirche, die auch in der Folge immer wieder markant hervortritt und am Schluss, wenn die Vokalformanten den statischen Glockenklang einfärben, eine Vereinigung mit der Menschenstimme erfährt.

Gerhard Dietel