Scelsi, Giacinto

Volume 10: The Works for Violin

Verlag/Label: mode records, mode 256
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Urteilt man nach der Beständigkeit, mit der seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Kontexten Einzelproduktionen oder – wie bei mode records und Stradivarius – ganze CD-Reihen mit Musik Giacinto Scelsis bestückt werden, so lässt sich daraus auf eine relativ hohe Akzeptanz für dessen Arbeiten ableiten. Dennoch sind Veröffentlichungen wie Weiping Lins Einspielung der Werke für Solovioline nicht ohne Risiko, weil die Beschränkung auf ein Instrument unweigerlich eine gewisse Einheitlichkeit, wenn nicht gar Monotonie mit sich bringt. Diesem Problem wirkt die Geigerin allerdings entgegen, indem sie mit einer klugen Anordnung der fünf Kompositionen für das notwendige Maß an Abwechslung sorgt: Zwischen die viersätzigen Divertimenti Nr. 2, 3 und 4, in den Jahren 1954/55 und damit noch vor Scelsis entscheidender Wende zur Mikrotonalität entstanden, sind die Kompositionen L’âme ailée – L’âme ouverte (1973) und Xnoybis (1964) eingeschoben. Dadurch herrscht bei aller Geschlossenheit der CD doch ein gewisses Maß an Abwechslung, weil unterschiedlich konzentrierte und konzipierte Zugangsweisen zum Klang miteinander alternieren.
Das, was Scelsi in den Divertimenti durch mitunter orientalisch anmutende Figurationen, expressiv sich entfaltende melodische Linien oder auch exzessive Repetition einzelner Töne und Motive in den musikalischen Raum unterschiedlicher Registerlagen verlagert, in­dem er zugleich auf die virtuose Gestik älterer solistischer Violinmusik wie etwa des Capriccios zurückverweist, ist in den beiden jüngeren Werken auf die Ebene der Klanggebung bei gleichzeitiger massiver Klangveränderung des Instruments durch Verstimmung verlagert. Beide Verfahren stellen zum Teil extreme Anforderungen an den Interpreten, denen Weiping Lin mit phänomenalen spieltechnischen Fähigkeiten begegnet: In den Einzelsätzen der Divertimenti wechselt sie mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen unterschiedlichen Darstellungsarten, schreibt rasch wechselnde Aktionen in konzentriert gestaltete Spannungsbögen ein, formt das hoquetusartig in mehreren Registerlagen sowie in gestrichenen und gezupften Tönen parallel geführte Geschehen zu einem ständig variablen Ereignisverlauf oder modelliert kurze Melodieverläufe durch Einsatz feiner dynamischer Abschattierungen. Der präzise Zugriff auf die von Scelsi geforderten, stellenweise ins kaum Ausführbare getriebenen Anforderungen an Griff-, Zupf- und Bogentechnik lässt die musikalischen Konturen scharf hervortreten.
Umgekehrt regiert in den übrigen Stücken das enge Kreisen um ein deutlich hervortretendes Zentrum, das kaum verlassen, aber durch variable Verwendung geigerischer Klanggebungsmöglichkeiten in engen und weiteren Mikrointervallen umkreist wird. Hier fesselt Weiping Lins Spiel durch die vielen Nuancen, die sie den sorgfältig ausgehörten Schwebungen oder minimalen Variationen des Vibratos verleiht, um die Musik aus den Bedingungen von Klang und Harmonik heraus zu gestalten, wodurch letzten Endes die konturierte Tonhöhenwahrnehmung unterlaufen wird.

Stefan Drees