Hiekel, Jörn Peter (Hg.)

Vorzeitbelebung

Vergangenheits- und Gegenwarts-Reflexionen in der Musik heute

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 93

Der unbefangene Leser könnte mit dem Titel des vorliegenden Bandes die archäologischen Mühen rund um die Gletschermumie Ötzi assoziieren, und er läge damit gar nicht so falsch. Denn das Schürfen und Buddeln in den Mergelgruben der Geschichte gehört wesenhaft zum Selbstverständnis des frühverstorbenen Dichters und Performance-Künstlers Thomas Kling (1957-2005), dessen Andenken die Bei­träge von drei Musikwissenschaftlern und fünf Komponisten gewidmet sind. Mit der emphatischen Chiffre «Vorzeitbelebung» hat Kling in Anlehnung an Rudolf Borchardt sein poetologisches Programm sehr genau benannt, mit dem er – Sprachfunde der Vorzeit und aus unserer Medienwelt virtuos kombinierend – Altes und Neues verschmilzt, vermeintlich Überholtes in einem sehr genauen Sinn neu zur Sprache bringt, aber auch das vermeintlich Fortschrittlichste ad fontes zurückbindet.
Etwas von diesem Vulkanischen vermittelt sich auch in den acht Texten, mit denen ein Symposion im Rahmen des «Inselfestivals Hombroich 2008» dokumentiert wird. Und weiter: Wie später Christoph Schlingensief, so hat auch Thomas Kling seine tödliche Krankheit als Material betrachtet, er hat mit ihr und gegen sie und durch sie hindurch und über sie hinaus gedichtet – ein Schürfen «in der Seele wundersamem Bergwerk» (Novalis). Dem Leser wird schwerlich entgehen, dass sich hier auch diese Dimension, die wohl existenziellste seines Schaffens, niedergeschlagen hat. Das gilt vorab für Hans Zenders Hölderlin-Exegese, die das vielbeschworene Offene zur «absoluten Offenheit, Unbestimmtheit und Leere» eindunkelt, zum Ort «jener äußersten und beängstigenden Freiheit, in die uns die Moderne versetzt hat». Isabel Mundry lotet die Verschränkung der Préludes non mesurés von Louis Couperin und Thomas Klings Gedicht des nachtz mit drei eigenen Kompositionen im Zyklus Schwankende Zeit aus. Manos Tsangaris gelingt – ausgehend von ei­nem Wort Heraklits – ein eindrucksvolles Selbstporträt aus der Sicht des geistesverwandten Dichterfreundes, und Hans Thomalla konkretisiert die Vorstellung vom «Komponieren als Schaffung von Gegenwart» mit drei eigenen Werken. Mit seinem Double Distant Counterpoint, einer kompositorischen Bezugnahme auf Bachs Kunst der Fuge, erklärt Rolf Riehm unter Berufung auf den Literaturkritiker Harald Bloom (und ganz im Geist Klings) das «Fehl-Lesen» (misreading) zu einer legitimen Form der Anverwandlung von Vorgefundenem. Jörn Peter Hiekel weist «Vorzeitbelebungen in der Musik heute» aus, reflektiert «Geschichtslosigkeit und (auch politische) Geschichtsbezüge» und skizziert «Po­sitionen der Postmoderne». Martin Zenck geht der Frage nach der Vorzeitbelebung bei Beethoven (Hammerklaviersonate) und Pierre Boulez (Zweite Klaviersonate) nach, und Ralph Paland («Mythen der elektroakustischen ‹Revolution›: Aktuelle Ge­schichtskonstruktionen einer Musik ohne Vergangenheit») erkennt in der elektroakustischen Rekomposition der musikalischen Überlieferung eine Entsprechung zu der von Kling als «keineswegs gewaltfrei» charakterisierten Arbeit des Dichters: «[…] das Zerreißen und das Wieder-Zusammensetzen der Einzelglieder»). Triftiger könnten die Schlussworte dieses eindrucksvollen achtteiligen In Memoriam Thomas Kling nicht gewählt sein.
Peter Becker