Meyer, Andreas (Hg.)
Was bleibt?
100 Jahre Neue Musik (= Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften, Band 1)
Ob es wohl liegenbleibt, das zwölfte der bunten Klötzchen, mit denen David Tudor auf der Coverabbildung eine «Partitur» von George Brecht realisiert? Incidental Music der Titel lässt offen, worin das angekündigte «Ereignis» zu suchen sei: im Gelingen oder im Scheitern? Vulgo: wenns klappt oder wenns schiefgeht?
Es ist ein glücklicher Einfall, den Leser zunächst mit diesem Darmstädter «Augenblick» von 1961 zu konfrontieren: eine Sphinx, und weit und breit kein Ödipus. Die Zeit der «richtigen» Antworten scheint ohnehin vorbei zu sein. Wichtiger ist es, erst einmal die richtigen Fragen zu stellen und sie gegebenenfalls auszuhalten. Darin kann man so etwas wie das geheime Programm des vorliegenden Bandes sehen. Als «Autorenkonzept» disponiert, sind die neun Beiträge nicht auf einen einheitlichen Neue Musik-Begriff eingeschworen, wohl aber hat sich in allen Texten das Bemühen niedergeschlagen, «anhand frei gewählter Beispiele aus der aktuellen Arbeit Grundsätzliches zu thematisieren». Aus solcher Melange von unterschiedlichen Sichtweisen einerseits und Übereinkunft in ihrer Präsentation andererseits ist ein Kompendium entstanden, das dem Leser wesentliche, durch subkutane Querverbindungen vielfach verstrebte Aspekte heutigen Musikdenkens erschließt. Die Beiträge von Andreas Meyer, Christopher Halley, Joachim Kremer und Gianmario Borio lassen sich insgesamt unter der von Meyer reklamierten Devise «Neue Musik als musikalische Anthropologie» lesen.
Worum geht es? Um den Schulterschluss der Avantgarde mit dem Populären, um die veränderte Zeiterfahrung des gedehnten Augenblicks in der Musik um 1910, um das Neue der neuen Musik von Plato bis Schönberg und um den Einbruch des Anderen in die westliche Musik des 20. Jahrhunderts. Für die Beiträge von Sointu Scharenberg («Wie gelangt die neue Musik in die deutsche Musikpädagogik?») und Simone Heiligendorff kann die Chiffre «Ins Offene» stehen. Musikpädagogik hat sich (so von Scharenberg insbesondere für die 1920er Jahre eindrucksvoll belegt) weit mehr als vielfach kolportiert den Herausforderungen und Chancen des Neuen gestellt. Für Heiligendorff sind «Neue Gewebe in der Musik der letzten Jahrzehnte» eine pädagogisch höchst relevante Einladung zu einer Gratwanderung am Rande des Hörbaren.
Matthias Tischer spürt den Schnittmengen des musikalischen Diskurses mit dem Politischen in der Aura des Kalten Krieges nach, Diedrich Diederichsen kommt zu einer Neubewertung der Pop-Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre. Hermann Danuser vermisst abschließend das spannungsreiche, lange Zeit ideologisch verminte Feld zwischen Moderne und Postmoderne, und er prognostiziert mit kritischem Blick auf die wachsende Relevanz der Technologie eine unaufhaltsame Metamorphose der modernen Musik zur postmodernen. Damit aber ist die Titelfrage «Was bleibt?» unversehens zum «Quo vadis, neue Musik?» mutiert. Und was bleibt? Die Gewissheit, dass neue Musik ein unverfügbarer Prozess ist, unberechenbar und rätselhaft wie alles Lebendige auch. Auf solcher Gewissheit gründet die mit diesen Texten vermittelte Hoffnung, dass die Reise der neuen Musik auch künftig nicht ins Blaue führt, sondern ins Offene.
Peter Becker