Hermann, Arnulf

Wasser

Verlag/Label: Ensemble Modern Medien, EMCD-019
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Wasser – Musiktheater in 13 Szenen (2010/11), uraufgeführt bei der Münchener Biennale 2012, ist das erste Werk von Arnulf Herrmann für die Bühne. Schon der Titel in seiner radikalen Kürze spielt so raffiniert wie intrikat mit der Assoziationskraft wie auch dem musikalischen Referenzspektrum des Rezipienten. Wer dächte nicht augenblicklich an Wassermusiken aller Arten quer durch die Epochen, an Opern, deren Protagonisten sich durch die Weltmeere kämpfen müssen, um
irgendwen von irgendwas zu erlösen, oder an Figuren wie den «Fliegenden Holländer», für die das Meer zum Sinnbild des eigenen Untergangs wird. Herrmanns Opus rekurriert auf nichts davon – oder doch?
Der 1968 geborene Komponist hat lange gedankliche Kreise um eine frühe Kindheitserinnerung gezogen. Nach einer längeren Nachtfahrt, von Italien kommend, schaute Herrmann auf den Stausee bei Reschen, aus dem noch der Kirchturm des alten Südtiroler Dorfes Graun herausragt. Diese Impression, verbunden mit der Frage, was wohl unter der Seeoberfläche liegen mag, welche Geschichte, welche Geschichten – diese Impression ließ ihn nicht mehr los, kulminierte letztlich unter anderen Vorzeichen in Wasser.
So wie Herrmann viel Zeit damit verbrachte, dem Nachhall dieses Ereignisses im Inneren nachzulauschen, so verbrachte er auch viel Zeit damit, nach einem Librettisten mit ähnlicher Interessenlage und ähnlichen poetisch-dramatischen Schwingungen zu suchen. Fündig wurde er bei dem Publizisten und Poeten Nico Bleutge. Es sollte ein Libretto entstehen, das den musikalischen Ideen gehorcht – ausschließlich. Eine Handlung im klassischen Sinn gibt es nicht, nur so etwas wie die Illumination einer Geschichte über eine Geschichte.
Die 13 Szenen spielen auf der Folie einer traumatischen Erfahrung. Ein Mann erwacht in einem Hotelzimmer aus einem Albtraum, kann sich jedoch nicht mehr orientieren, weil er sein Gedächtnis verloren hat. Im Foyer gerät er in eine Abendveranstaltung. Er glaubt die Menschen dort kennen zu müssen. Aber wegen seines verlorenen Erinnerungsvermögens erscheint ihm alles seltsam verschoben und verrückt, auch die Musik. Sie kommt von einer Schallplatte, die sich nicht um ihren Mittelpunkt dreht und deshalb eiernd verzerrte Zusammenhänge liefert. Die Frau, mit der der Mann tanzt, erscheint ihm als seine verstorbene Gattin/Geliebte. Vielleicht ist es aber auch eine andere, die ihm aus dem Trauma heraushelfen könnte? Frau und Mann sehen sich mehrmals, doch die Distanz zwischen ihnen wächst, statt kleiner zu werden.
Musikalisch reflektiert Herrmanns Partitur dieses Nähe-Distanz-Spiel, diese durcheinandergeratenen Erinnerungsversuche ohne Ausweg in einem Wirbel aus Zitaten, die, kaum an die Oberfläche gespült, schon wieder durch live-elektronische Eingriffe unkenntlich gemacht, von amalgamiertem musika­lischen Material überspült und damit auch überspielt werden. Formal wie strukturell sind Musik und Text dabei so ausgezirkelt und ziseliert angelegt wie eine Barockoper, wie ein Barocklibretto, allerdings reduziert auf die Essenz. Zu hören ist das hier in einer Referenzeinspielung. Was will man mehr für ein Werk, das dem Begriffsspektrum «Musiktheater» die Variante des theatralischen Gedichts hinzufügt?

Annette Eckerle