Brötzmann, Peter

We Thought We Could Change the World

Conversations with Gérard Rouy

Verlag/Label: in Englisch, Wolke Verlag, Hofheim 2014, 192 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 94

Manche halten Peter Brötzmann we­gen seiner kompromisslosen Radikalität für einen Koloss der Jazzmoderne. Andere sprechen dem Freejazz-Saxofonisten ab, überhaupt Jazz spielen zu können. Brötzmann polarisiert. An seiner Musik scheiden sich die Geister.
Dass Zeitgenossen sich an Brötzmann reiben, hat mit seiner brachialen Spielweise zu tun. Im Powerplay ist er unübertroffen! Sein ästhetischer Standpunkt ist von Eindeutigkeit bestimmt. Vielleicht hat ihn dieses Merkmal zum weltweit bekanntesten deutschen Jazzmusiker gemacht.
Was hinter seiner musikalischen Vision steckt, was sein ästhetisches Denken und Fühlen bewegt und wie er zu dem wurde, was er ist, darüber gibt ein Interviewbuch Auskunft, das der französische Musikjournalist und Fotograf Gérard Rouy aus Gesprächen mit Brötzmann zusammengestellt hat. Dabei wird klar, dass Brötzmann sich nicht allein als Musiker begreift, sondern genauso als bildender Künstler mit einem beachtlichen Werk. Ausführlich gibt der Saxofonist Auskunft über seinen Werdegang und denkt über die Beweggründe und Triebkräfte seiner Musik und seines Kunstschaffens nach. Er spricht über Musiker, mit denen er lange Jahre zusammengearbeitet hat, sowie die Hürden und Hindernisse, die es da­bei zu überwinden galt. Im Anhang wird der biografische Erzählstrang durch Schwarzweiß- und Farbfotos illustriert, woran sich eine Dokumentation seiner Kunstwerke anschließt.
1941 in Schlawe (Pommern) geboren, erklärt vielleicht Brötzmanns preußische Herkunft die hochdisziplinierte Besessenheit, mit der er unbeirrbar über nahezu ein halbes Jahrhundert seiner Utopie eines freien Jazz gefolgt ist. Als 13-Jähriger gerät er in den Bann der swingenden Klän­ge aus New Orleans und fängt an, in der Schulcombo in Remscheid Jazzklarinette zu spielen. Inspiriert von den neuen Sounds aus Amerika (Ornette Coleman, Albert Ayler etc.) radikalisiert Brötzmann in den 1960er Jahren sein Saxofonspiel und tingelt durch die westdeutschen Clubs, um bald auch Abstecher nach Holland, Belgien und England zu machen.
Brötzmann wirkt im Globe Unity Orchestra mit und ist an der Gründung der Free Music Production (FMP) beteiligt, dem Selbsthilfe-Label der westdeutschen Freejazzer. Später macht er noisehaltigen Punkjazz mit «Last Exit», um heute in Formationen wie dem «Chicago Tentet» oder dem Powertrio «Full Blast» aktiv zu sein.
Im Gespräch mit Gérard Rouy kommen nicht nur die verschiedenen Stationen seiner Karriere zur Sprache, sondern auch die Widersprüchlichkeit einer Praxis, die unter dem Banner der Unvorhersehbarkeit immer berechenbarer geworden ist. Der Avantgardist Brötzmann ist zum Klassiker geworden.
Die dunklen Seiten der Musikerexistenz werden nicht ausgespart: der selbstzerstörerische Alkoholkonsum, das Macho-Gehabe der Männerbün­de, die Depressionen und der Überlebenskampf. In seiner Vielfalt ergibt das Buch ein umfassendes Porträt Brötzmanns, dessen Name wie Cage oder Stockhausen längst zu einem Markenzeichen geworden ist.

Christoph Wagner