Weiße Tasten schwarze Tasten

Sontraud Speidel spielt Barbara Heller

Verlag/Label: organo phon CD 90140
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Auch wenn das Gespräch zwischen der Komponistin und ihrer Interpretin, das samt gut gemeinter Porträtskizzen acht Heftseiten füllt, sich eher in wechselsei­tigen Sympathiebezeugungen erschöpft – die gute Stunde Klaviermusik, die in der Hülle steckt, hält sich kom­posi­to­risch und pianistisch im Spielfeld professionellen Künstlertums. Kennen gelernt haben sich die Komponistin aus Darmstadt und die Pianistin aus Karlsruhe über Fanny Hensel, deren Musik Sontraud Speidel in den 1980er Jahren als Erste öffentlich vortrug. Die Zuneigung zu Speidel wurde denn auch zum Nährboden zart­sinniger Klangblumen. So nannte die eins­tige Studentin des Hindemith-Schülers Genzmer ihren Strauß überwiegend kurzer Charakterstücke im Geiste Robert Schumanns. Als Inspirationsquellen kommen auch Griegs Lyrische Stücke, Mendelssohns Lieder ohne Worte, Préludes von Chopin und Debussy, Regers vernachlässigter Zyklus Aus meinem Tagebuch und Bartóks Mikrokosmos in Betracht. Barbara Hellers Blumenzyklus – ein Schatzkästlein für fortgeschrittene Klavierschüler, Studierende und Pädagogen – entstand in den Jahren 1996 bis 2007. «Als Heilungsprozess», wie der Kommentartext diskret verrät.
Der Leser ahnt Schicksalhaftes. Doch bedürfen die 25 Miniaturen keiner lebensgeschichtlichen Empathie. Poetische Vorstellung und meisterliche Satzkunst sprechen für sich selbst. Jede Klangblume entspringt einer besonderen Vor­gabe: einem Intervall, einer ostinaten Figur, einer bestimmten Bewegung, einer Stimmung, Atmosphäre oder Klangfarbe, einem Spielgestus, einer Anschlagsart … Unerschöpflich ihr Ausdrucks- und Gestaltenreichtum: verschwimmend oder klar umrissen, taktfest oder rezitativisch, versonnenen oder flatterhaft, flächig oder kleinteilig. Nicht minder artenreich die Titel. Ihre bloße Nennung ergibt ein Gedicht: «Tanzblume«, «Springblume», «Flatterblume», «Flugblume», «Abendblume», «Winterblume», «Inselblume», «Papierblume», «weiße, zarte, welke Blume». Nicht zu vergessen die «Pusteblume».
Die Sonatine 1962, im Aufbaustudium bei Harald Genzmer in München entstanden, klingt ein wenig nach «Unterweisung im Tonsatz». Doch regt sich zumal im zweiten Satz durchaus schöpferischer (vorwiegend rhythmischer) Eigenwille.
Zwischen 1962 und 1996, als die ersten Klangblumen aufkeimten, klafft ein ungeheures Zeitloch. Eine Zeit der Reife war es allemal, wie das Nacht-Tagebuch von 2003 erkennen lässt: ein Werk, das – wie die Komponistin andeutet – «etwas zum Vorschein bringt, das ich im Leben nicht wage». In aufstrebenden Oktavgriffen poltert es eingangs einem Gipfelpunkt entgegen, um ihn nach erschrockenem Innehalten wieder preiszugeben. Hemiolen, Quintolen der rechten Hand gegen Quartolen der linken, wirken wie Enzephalogramme nächtlicher Unruhe. Mind the gap!
Einem Wunsch des in Ostfriesland lebenden Pianisten Werner Barho entsprach Barbara Heller 2004 mit dem fantasievollen Klangstück Weiße Tasten, schwarze Tasten. Es bezieht sich auf dessen Lieblingsstellen aus dem klassisch-romantischen Repertoire. Nach einem Choraleinschub gibt sie dem Interpreten Freiraum zum Improvisieren. Das Ende klingt ruhig und entspannt sich in die reine Konsonanz. Im Einklang mit Hindemith.

Lutz Lesle