Weiße Tasten schwarze Tasten
Sontraud Speidel spielt Barbara Heller
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3
Auch wenn das Gespräch zwischen der Komponistin und ihrer Interpretin, das samt gut gemeinter Porträtskizzen acht Heftseiten füllt, sich eher in wechselseitigen Sympathiebezeugungen erschöpft die gute Stunde Klaviermusik, die in der Hülle steckt, hält sich kompositorisch und pianistisch im Spielfeld professionellen Künstlertums. Kennen gelernt haben sich die Komponistin aus Darmstadt und die Pianistin aus Karlsruhe über Fanny Hensel, deren Musik Sontraud Speidel in den 1980er Jahren als Erste öffentlich vortrug. Die Zuneigung zu Speidel wurde denn auch zum Nährboden zartsinniger Klangblumen. So nannte die einstige Studentin des Hindemith-Schülers Genzmer ihren Strauß überwiegend kurzer Charakterstücke im Geiste Robert Schumanns. Als Inspirationsquellen kommen auch Griegs Lyrische Stücke, Mendelssohns Lieder ohne Worte, Préludes von Chopin und Debussy, Regers vernachlässigter Zyklus Aus meinem Tagebuch und Bartóks Mikrokosmos in Betracht. Barbara Hellers Blumenzyklus ein Schatzkästlein für fortgeschrittene Klavierschüler, Studierende und Pädagogen entstand in den Jahren 1996 bis 2007. «Als Heilungsprozess», wie der Kommentartext diskret verrät.
Der Leser ahnt Schicksalhaftes. Doch bedürfen die 25 Miniaturen keiner lebensgeschichtlichen Empathie. Poetische Vorstellung und meisterliche Satzkunst sprechen für sich selbst. Jede Klangblume entspringt einer besonderen Vorgabe: einem Intervall, einer ostinaten Figur, einer bestimmten Bewegung, einer Stimmung, Atmosphäre oder Klangfarbe, einem Spielgestus, einer Anschlagsart
Unerschöpflich ihr Ausdrucks- und Gestaltenreichtum: verschwimmend oder klar umrissen, taktfest oder rezitativisch, versonnenen oder flatterhaft, flächig oder kleinteilig. Nicht minder artenreich die Titel. Ihre bloße Nennung ergibt ein Gedicht: «Tanzblume«, «Springblume», «Flatterblume», «Flugblume», «Abendblume», «Winterblume», «Inselblume», «Papierblume», «weiße, zarte, welke Blume». Nicht zu vergessen die «Pusteblume».
Die Sonatine 1962, im Aufbaustudium bei Harald Genzmer in München entstanden, klingt ein wenig nach «Unterweisung im Tonsatz». Doch regt sich zumal im zweiten Satz durchaus schöpferischer (vorwiegend rhythmischer) Eigenwille.
Zwischen 1962 und 1996, als die ersten Klangblumen aufkeimten, klafft ein ungeheures Zeitloch. Eine Zeit der Reife war es allemal, wie das Nacht-Tagebuch von 2003 erkennen lässt: ein Werk, das wie die Komponistin andeutet «etwas zum Vorschein bringt, das ich im Leben nicht wage». In aufstrebenden Oktavgriffen poltert es eingangs einem Gipfelpunkt entgegen, um ihn nach erschrockenem Innehalten wieder preiszugeben. Hemiolen, Quintolen der rechten Hand gegen Quartolen der linken, wirken wie Enzephalogramme nächtlicher Unruhe. Mind the gap!
Einem Wunsch des in Ostfriesland lebenden Pianisten Werner Barho entsprach Barbara Heller 2004 mit dem fantasievollen Klangstück Weiße Tasten, schwarze Tasten. Es bezieht sich auf dessen Lieblingsstellen aus dem klassisch-romantischen Repertoire. Nach einem Choraleinschub gibt sie dem Interpreten Freiraum zum Improvisieren. Das Ende klingt ruhig und entspannt sich in die reine Konsonanz. Im Einklang mit Hindemith.
Lutz Lesle