Zimmerlin, Alfred
Weites Land für Violoncello und Zuspiel-CD / Weisse Bewegung für Violoncello, Klavier und Schlagzeug
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4
In einer gehetzten, vom Tempo der modernen Kommunikationstechnologien diktierten Welt beginnt der Mensch selbst zum Anhängsel der Apparate und ihrer Funktionsweisen zu werden. Das Multi-Tasking färbt ab: Konzentration auf Einzelnes ist ihm kaum mehr möglich, wo ihn die Vielfalt der Aufgaben zur Parallelverarbeitung zwingt. Gegen dieses Getriebe mit seiner Tendenz zu Oberflächlichkeit und Zerstreuung Einspruch zu erheben, ist eine Aufgabe der Kunst von heute. Sie vermag ein Gegenbild zu entwerfen: indem sie sich von der Außenwelt abkoppelt und die verlaufende Zeit ohne Indienststellung wieder rein verfließen lässt.
Erst einmal muss jedoch tabula rasa gemacht werden, bevor Neues aufgebaut werden kann. In diesen
Zustand der Leere, freilich einer von Erwartung gefüllten Leere, schreibt die Musik des Schweizer Komponisten Alfred Zimmerlin ihre Zeichen ein. Wenn Zimmerlin seine Stücke Weites Land oder Weisse Bewegung nennt, so sind bereits die Titel bezeichnend. In Metaphern von Raum und Zeit deuten sie die Offenheit dessen an, was nun stattfinden kann.
Was in beiden Werken ertönt, ist nicht vorab mit Bedeutung befrachtet, lässt zwar vielfältig Semantisches anklingen, doch in freiem Verhältnis zu den Bedeutungsgehalten. Wo sich Entwicklungen schematisch zu verfestigen drohen, folgt sofort die gezielte Systembrechung. Nicht einmal ansatzweise wird die große Erzählung versucht. Zimmerlins Musik will nicht narrativ vorgehen und meidet auch die Reprise, was nicht ausschließt, dass über weite Zeiträume hinweg dann doch der Eindruck von Ähnlichkeiten, Korrespondenzen, Assonanzen entsteht.
Pizzicati und Glissandi intoniert Martina Schucans Violoncello in Zimmerlins Weites Land, Doppelgriffe und kleine Motive, die sich gelegentlich zu breiterem Gesang und schwelgendem Melos in hoher Lage entfalten. Im Hintergrund ertönen derweil vom Zuspielband dumpfe Schläge und Verkehrsgeräusche, Orgelartiges oder diffuses Rauschen. Aus den bewusst verwaschenen Klängen, die wie aus einem schlecht eingestellten alten Röhrenradio hereinschallen, strebt nur einmal ein alter Bündner Totentanz in den Vordergrund. Hier tritt nun doch eine dem ohne Vorabinformation nur lauschenden Hörer freilich verborgen bleibende Intention des Komponisten hervor, der Weites Land als Hommage an seinen 2001 verstorbenen Vater konzipierte.
Deutlich bipolar angelegt ist die Weisse Bewegung für Violoncello, Klavier und Schlagzeug, welche in ihren fünf Sätzen Vorwärtsdrang und Stillstand gegeneinander ausspielt, und dies nicht nur in der großen Form, sondern auch im Detail. So ist etwa der Anfangssatz «Weisse Bewegung I» selbst schon ein vielgliedriges Geschehen. Es ist, als ob der Hörer in eine Vielzahl unterschiedlicher Kammerstücke für Cello und Klavier passagenweise hineinlauschen darf, bevor dann jeweils ausgeblendet wird und das Schlagzeug die Leerräume mit leisen Einwürfen oder lärmenden Strecken füllt.
Gerhard Dietel