Danuser, Hermann

Weltanschauungsmusik

Verlag/Label: Edition Argus, Schliengen 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 94

Fast beiläufig hat Rudolf Stephan den Begriff «Weltanschauungsmusik» – wie auch den des «Naturstücks» – 1969 in Bezug auf Schönbergs Gurrelieder gebraucht. Hermann Danuser macht dieses Kompositum nun – relativ subjektiv, doch nicht willkürlich oder, wie Schelling sagen würde, in einer Dialektik von «willkürlicher Notwendigkeit und notwendiger Willkür» – historiografischen Zwecken dienstbar. Er fasst den Begriff «Weltanschauungsmusik» historisch weit, beginnend mit der Herausbildung des Begriffs «Weltanschauung» um 1800, endend nicht mit dem Ersten Weltkrieg, sondern dem Zweiten, ergänzt um Ausblicke auf Messiaen, Stockhausen und Crumb. Die Darstellung ist jedoch auf Werke aus dem deutschen Sprachraum zent­riert: Beethoven, Liszt, Brahms, Men­delssohn, Reger, Wagner, Strauss, Mahler, Schönberg, Webern u. a. Danuser entfaltet ein (durch die auktoriale Absicht, eine ‹Botschaft› zu hinterlassen) bestimmtes Segment der Musikgeschichte nicht historisch diachron, monografisch oder gattungs­geschichtlich, sondern gefiltert (nicht aber gerastert) durch Begriffsfelder und ihre historisch sich wandelnden Ambiguitäten, Paradoxa und Unschärfen, um die er weiß, die er zulässt und mit denen er spielt.
Akribisch diskutiert er einleitend Begriffsgeschichte und Bedeutungshorizonte von «Welt», «Anschauung» und «Weltanschauung» und entwickelt ein «Ensemble von [sechs] Inbildern im Horizont einer gesellschaftlichen und ästhetischen Moderne» (S. 16), «Kraftfelder […], die auf die Mu­sik, ihre Entstehung, ihre Rezeption ausstrahlen» (S. 48): Solche «ästhetisch-kulturellen Inbilder» entfaltet er in den sechs Kapiteln «Gemeinschaft» (Chorfinale von Beethovens «Neunter»), «Bildung» (Liszt und Brahms), «Religion» (Bach-Rezeption, Men­dels­sohn, Brahms, Reger, Wagner), «Heldentum» (Beethoven, Wagner, Mahler, Strauss, Eisler), «Liebe» (Wag­ner, Schön­berg, Zemlinsky, Mahler) und «Allnatur» (Strauss und Mahler, Schönberg und Webern, Rued Langgaard und Hindemith).
Zu heteronomen Bezügen – Bedeutungen etwa, die aus den vertonten Texten, die er ausgiebig untersucht, abzulesen sind – findet Danuser stets werkästhetische Entsprechungen und Begründungen. Akademisch erscheint bisweilen die Diskussion von Begriffen samt Anmerkungsapparat, nicht aber die Gedankenführung, die der Individualität der Einzelwerke gerecht wird. Bei dem Versuch, angesichts der «Auseinandersetzungen zwischen absoluter und programmgebundener Musik, zwischen Strukturalismus und Hermeneutik» (S. 34) beiden Seiten gerecht zu werden, gelingt es ihm, bekannten Aspekten – sowohl Fakten als auch Interpretationen / Sichtweisen – neue hinzufügen.
So profund und fruchtbar die Fülle der sorgfältig präparierten Details sowie die farbige Differenzierung von Perspektiven der Einzelwerke auch ist, so vorläufig erscheint Danusers großer Entwurf, der nur als offener und prinzipiell unabgeschlossener verstanden werden kann. An dieser unaufdringlich undogmatischen Art von Theoriebildung darf weiter gearbeitet werden.

Walter-Wolfgang Sparrer