Riehm, Rolf
Wer sind diese Kinder | Hamamuth Stadt der Engel
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Rolf Riehm macht es weder seinen Hörern noch seinen Interpreten besonders einfach. Schon der Beginn des Klavierstücks Hamamuth Stadt der Engel, während des Irak-Kriegs 2005 im Angesicht medial allgegenwärtiger Gewalt komponiert, kündet davon, dass der Komponist auf bewusste Überforderung setzt: Von Sprüngen durchsetzte Repetitionsketten erklingen da, hinter ihrer Unerbittlichkeit zugleich den Eindruck mühevollen Durchhaltens und Abarbeitens an einem voller Schwierigkeiten steckenden Notentext hörbar machend, so dass die Möglichkeit des Scheiterns angesichts extremer pianistischer Anforderungen in greifbare Nähe rückt.
Durch spannungsvoll aufgeladene Zäsuren voneinander abgesetzt, meißelt Nicolas Hodges die Klänge aus dem Klavier, folgt den unterschiedlichen Verzweigungen der Musik, hält plötzlich auf Akkorden oder Einzeltönen inne, um diesen nachzulauschen, und setzt überhaupt den voller Brüche und abrupter Wendungen steckenden Werkverlauf mit einem Maximum an imaginierbarem Körpereinsatz um. Freilich ist damit auch eine Grenze erreicht, an der man sich wünscht, über den Klang hinaus einen optischen Eindruck von der interpretatorischen Auseinandersetzung mit der Partitur zu gewinnen: Denn wer jemals eine Live-Aufführung von Hamamuth miterlebt hat, weiß, wie stark die Musik aufgrund der verbal und spieltechnisch eingeforderten Gestik über den Körper des Musikers wirkt.
Wie eine Fortführung dieses kompositorischen Konzepts unter anderen medialen Perspektiven mutet Wer sind diese Kinder von 2009 an: Die Orchesterklänge scheinen, immer zwischen Konnotation und Zitat schwankend, stärker noch als der Klavierpart nahezu Greifbares und Bekanntes in sich aufzubewahren, während die Sinngebung zugleich durch die Klangräume elektronischer Sprachzuspielungen in den Bereich konkreter Semantik ausgeweitet wird. Wie Hodges spielt auch das Orchester ausgesprochen stark und lässt sich unter Beat Furrers Leitung zu intensiven, über unterschiedliche Dauern hinweg reichenden Klangintensitäten anregen. Erstaunlich sind aber auch die zarten, reflexiven Momente, etwa wenn eine vom Pianisten hingetupfte Reihe aus Einzeltönen von Celli und Bässen übernommen wird, bevor die Erinnerung an diese Fortführung im Tutti von Solo und Orchester zwischen wuchtigen Repetitionsblöcken zerrieben wird.
Es hat letzten Endes etwas für sich, wenn Jörn Peter Hiekel im erstaunlich ausführlichen Booklettext dafür plädiert, beide Werke zu «jenen bedeutsamen künstlerischen Versuchen der letzten Jahrzehnte» zu zählen, «die das Spektrum politischer Musik substanziell zu weiten suchen», indem sie sich nicht nur die semantische Aufladung, sondern auch die Körperlichkeit von Klängen zunutze machen. Dem Versuch, mittels typografisch erweiterter Wiedergabe der Tracklisten zumindest etwas von den umfassenden, beiden Partituren eingeschriebenen Text- und Aktionsschichten einzufangen, gilt ein großes Lob, auch wenn dies zum Glück! nichts gegen die Vieldeutigkeit der Musik ausrichten kann.
Stefan Drees