Müller, Kai Hinrich

Wiederentdeckung und Protest

Alte Musik im kulturellen Gedächtnis (Reihe Musik – Kultur – Geschichte, Band 1)

Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, 288 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 94

Die hier zu besprechende Studie, die auf einer Dissertation fußt, welche 2012 an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz eingereicht wurde, versteht sich nicht als musikologisches Vorhaben im engsten Sinn, sondern entwickelt einen weiter gefassten Blick auf das Phänomen der «Alten Musik» und der «Historischen Aufführungspraxis». Wohl wendet sie sich im Zentrum deren Geschichte zu, unterteilt in eine «Entzündungsphase» (im Historismus des 19. Jahrhunderts), eine «Konsolidierungsphase» (in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) und eine anschließende «Professionalisierungsphase», doch geschieht deren Darstellung in einem weiter gefassten kulturwissenschaftlichen Rahmen.
Demgemäß spielen in einer interdisziplinären Verfahrensweise politologische und soziologische Ansätze eine Rolle, wobei die «Alte Musik»-Bewegung im Lichte der Systemtheorie betrachtet wird. «Wiederentdeckung» und «Protest» sind für den Autor Zentralbegriffe im Hinblick auf deren Selbst- und Fremdwahrnehmung: Protest gegen das herkömmliche Musikleben und Wiederentdeckung des Alten im Zeichen der historischen Gerechtigkeit, wodurch zugleich Inhalte des passiven kulturellen «Speichergedächtnisses» in ein aktives «Funktionsgedächt­nis» überführt werden.
Um die Daten nicht ausufern zu lassen, beschränkt der Verfasser sich bei der Sichtung auf den deutschsprachigen Raum und auf die Epoche ab dem Barock. Veranschaulicht werden die Rahmenüberlegungen im Anhang des Buchs durch empirisches Material in «Auswertungsblöcken». Mit einer Sammlung von Rezensionen aus Fachzeitschriften und Zeitungen, die anlässlich von CD-Veröffentlichungen der Gruppen Akademie für Alte Musik Berlin, Concerto Köln und Musica Antiqua Köln entstanden, versucht Kai Hinrich Müller den Brückenschlag zwischen seinen Leitbegriffen «Wiederentdeckung»/«Protest» und der journalistischen Wahrnehmung der historischen Aufführungspraxis. Ferner liefert er zum Aspekt der «Professionalisierung» Daten zu Ensemble- und Festivalgründungen im Zeitraum 1950 bis 2010.
Drei «Reflexionen» runden die Untersuchung ab. Erstens wird der Gedanke erwogen, ob dank der gemeinsamen Frontstellung gegen den überkommenen bürgerlichen Konzertbetrieb Berührungspunkte zwischen «Alter Musik» und «Avantgarde» bestehen (was eher verneint wird), zweitens, ob wiederum im Zeichen des «Protests» eine gewisse Affinität der historischen Musizierpraxis zur antiautoritären Bewegung der 1968er bzw. der damit verbundenen Jugendbewegung besteht. Drittens lotet ein Abschnitt «Neue Wirklichkeiten» aus, inwieweit die «Wiederentdeckung» im Zeichen eines Anspruchs von «Authentizität» geschieht, wobei der Doppelcharakter dieses Begriffs entfaltet wird: Zur geschichtlichen «Authentizität» im Sinne des «Originalklangs» und der historisch informierten Spielweise tritt die subjektive Authentizität des Interpreten.

Gerhard Dietel