Kloke, Eberhard
Wieviel Programm braucht Musik?
Eine Zwischenbilanz 1980 bis 2010
Sperrige Klänge haben es im öffentlichen Konzertleben bekanntlich schwer. Musik ab 1950 erklingt im Symphoniekonzert so gut wie nie. Durchs Quotenraster fallen unter anderem hochkarätige Orchesterwerke von Iannis Xenakis, Helmut Lachenmann und sogar von «gemäßigteren» Komponisten wie Hans Werner Henze. Festivals mit neuer Musik setzen dem Missstand wenig entgegen. Uraufführungen geben hier den Ton an. Eine unübersehbare Repertoire-Lücke etwa von Schönbergs Zeiten bis zum jeweils Aktuellen bleibt.
Der Dirigent Eberhard Kloke hinterfragt zu Recht die Spaltung der öffentlichen Musikkultur in zeitgenössische Musik und Musik des 17. bis 19. Jahrhunderts. Sicher ist und war er nicht der Einzige. Schon Klokes Kollegen Pierre Boulez, Michael Gielen, Erich Leinsdorf und Peter Gülke haben in den aufrührerischen 1970er und später in den 1980er Jahren unorthodoxe Kontextualisierungen von Alt und Neu gepflegt, jedoch nicht die Muße gefunden, ihre Praxis schriftlich festzuhalten. Schon zu Beginn der 1980er Jahre in Ulm sah Kloke in seiner Funktion als Generalmusikdirektor, die er später noch in Freiburg, Bochum und Nürnberg bekleidete in der steten Wiederkehr etablierter Orchesterwerke eine Perspektivlosigkeit des Konzertlebens. Dieser begegnet er mit Zeiten umspannenden, im 450-seitigen Buch oft mehr kursorisch dokumentierten als konkret begründeten Programmen: Der Notre Dame-Meister Perotin begegnete an einem Abend Walter Zimmermann, Mario Lavista sah sich Gustav Mahler gegenüber und Richard Wagner dem amerikanischen Experimentator George Crumb. «Raum-Konzert» nannte Kloke den Zeiten überspannenden Konzertabend der Bochumer Jahrhunderthalle, einer der größten Bauzeugnisse der Industriekultur.
Neben der Bedeutung des Aufführungsraums spielen immanent politische Kontextualisierungen eine große Rolle in Klokes Programmierungen: «ORTE erinnern Eine Fahrt auf den Spuren des NS-Terrors» lauten zwei geplante Veranstaltungsreihen in Berlin. Freiluftkonzerte sollten stattfinden an prominenten Orten faschistischer Geschichte, jeweils unter verschiedenen Mottos: «todesfuge» heißt das Programm an der Gedenkstätte Plötzensee; Steve Martlands Drill für zwei Klaviere war gedacht vor Mauricio Kagels 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen. Parallel dazu sollte Paul Celans Text Todesfuge rezitiert werden. Am Denkmal zur Bücherverbrennung wollte Kloke einen Ausschnitt aus Carl Orffs Carmina Burana zu Gehör bringen und so auf das Verhalten des Komponisten während des Nationalsozialismus verweisen. Circa sechs Stunden sollte die ausschweifende (aufgrund einer kurzfristigen Absage des anvisierten Veranstalters nicht realisierte) Produktion dauern. Trotz sinnvoller Vorschläge zur Nutzung multimedialer Möglichkeiten des Internets ist es gewiss ein Manko, dass Klokes Ideen zu oft ausufernde Tendenzen zeigen, die nicht nur auf eventuelle Sponsoren bedrängend wirken können. Sein Verdienst, das merkwürdigerweise weit unterbelichtete Thema «Konzertprogramm» auf die Agenda zu setzen, schmälert das nicht.
Torsten Möller