Sapper, Manfred / Weichsel, Volker (Hg.)

Witold Lutoslawski – Ein Leben in der Musik

(= Osteuropa Heft 11-12/2012)

Verlag/Label: 160 Seiten, mit Audio-CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 91

Den 100. Geburtstag des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski würdigte die Zeitschrift Osteuropa mit einem gehaltvollen Sonderheft. Als interdisziplinäres Forum des Ost-West-Dialogs lässt sie nicht nur Musikwissenschaftler zu Wort kommen. Stimmen polnischer Literaten verleihen dem Band atmosphärischen Reiz. Mit satirischem Unterton schildert Adam Wiedemann einen Konzertbesuch im winterlichen Warschau, wo der Zwingherr des sensiblen Chaos sein Livre pour orchestre dirigiert. In «unsortierten Bemerkungen» bricht Wojciech Kuczok eine Lanze für die schlesische Komponistenschule.
Ohne ironische Anwandlungen bleiben die Erinnerungen von Künstlern, die der Maestro ausnahmsweise an sich herankommen ließ. In respektvoller Liebe gedenkt Krzysztof Meyer, der 1987 bis 2008 an der Kölner Musikhochschule lehrte, seines (inoffiziellen) Lehrers und Freundes. Sein Rückblick bewahrt nicht nur handwerkliche Empfehlungen und kunstmoralische Anschauungen. Er birgt auch rare Reminiszenzen, die sich zu einem lebens­nahen, keineswegs widerspruchsfreien Charakterbild fügen. Der aristokratisch wirkende Künstler, dem Meyer «eine seltene Subtilität und Diskretion» nachrühmt – er konnte auch ungehalten werden. Etwa wenn er sah, wie Komponisten scharenweise seine Technik des gelenkten Zufalls abkupferten. Oder erfuhr, John Cage habe das ihm anvertraute Manuskript der Jeux vénitiens verscherbelt …
Dass sein «aleatorischer Kontrapunkt» in der Sowjetunion, zumal im Baltikum, fleißige Nachahmer fand, bestätigt der Moskauer Komponist Vladimir Tarnopolskij. Und das, obwohl seine Musik dort unerwünscht war: in den 1960er Jahren, weil sie als avantgardistisch bzw. «formalistisch» galt, in 1980er Jahren eher aus politischen Gründen. Distanzierte sich Lutoslawski doch zu Zeiten der Solidarnos?c? und des Kriegsrechts in Polen vernehmlich von der Staatsmacht.
Entzückt äußert sich Anne-Sophie Mutter, der Lutoslawski 1985 das konzertante Solostück Chain II widmete, über den feingeistigen Polen, der ihr «die Ohren für einen neuen Kosmos geöffnet» habe. Woraus sich eine wunderbare, leider viel zu kurze Freundschaft entwickelte (Lutoslawski starb im Februar 1994). Eingedenk ihrer Schlaflosigkeit schrieb er der Geigerin zur Hochzeit ein kleines Wiegenlied, das sie bis heute als Zugabestück in Ehren hält.
Unter der treffend paradoxen Überschrift «Klassiker der Avantgarde» skizziert die aus Posen stammende Musikwissenschaftlerin Danuta Gwizdalanka – die gemeinsam mit ihrem Gatten Krzysztof Meyer eine zweibändige, 2004/05 in Krakau erschienene Monografie über Lutoslawski verfasste – die Leitlinien seines Lebens und Schaffens. Wobei ein Komponist zutage tritt, der vergleichsweise spät seine unverwechselbare Tonsprache fand, erst eigene «Harmoniebausteine» erschuf und sich dann bemühte, «die Melodie wiederherzustellen». Auf diese Weise sei seine Musik «philharmonietauglich» geworden. Im Hinblick auf Lutoslawskis in den 1960er Jahren entwickelte «kontrollierte Aleatorik» stellt die Autorin unmissverständlich klar, worin sich diese vom Zufallsprinzip eines münzwerfenden Cage unterscheidet: Ging es dem Amerikaner darum, die europäische Tradition des opus perfectum et absolutum auszuhebeln, habe der Pole – ein Meister der Präzision – das kollektive ad libitum lediglich genutzt, um «einen originellen, flimmernden Klang zu erzeugen».
Die polnische Musikjournalistin Dorata Szwarc­man ortet Lutoslawski «auf den Schultern von Riesen», die ihn auf verschiedenen Ebenen der Komposition inspirierten: neben Bartók vor allem die Franzosen Debussy, Ravel und Rous­sel, aber auch Chopin (Stichworte Schein-Polyphonie und -Polymetrik). Die Warschauer Musikkritikerin Dorota Ko­zi´nska und der Breslauer Musikwissenschaftler Maciej Golab berühren einen wunden Punkt: Inwieweit beugte sich Lutoslawski nach 1949 der staatlichen Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus?
Ob Lutoslawskis Cellokonzert von 1970, wie Mstislav Rostropowitsch vermeinte, als «Kampf zwischen Künstler und repressiver Macht» zu lesen sei oder eine politisch-programmatische Deutung zu kurz tritt – dieses Problem beschäftigt die Heidelberger Dozentin Izabela Antulov und den englischen Emeritus Adrian Thomas, der sich dabei auf literarische Spurensuche begibt (griechische Tragödie, Dostojewski, Flaubert, Hamsun, Joseph Conrad).
Ohne Übertreibung lässt sich Lutoslawski als geistiger Vater und künstlerisches Gewissen des Festivals «Warschauer Herbst» bezeichnen, dessen Gründung die «Tauwetterperiode» nach Stalins Tod ermöglichte. Einziger Ort zeitnaher musikalischer Ost-West-Begegnung im damaligen Ostblock, bildete der «Herbst» den Nährboden, auf dem so etwas wie eine «Neue Polnische Schule» gedeihen konnte. Der Bre­mer Osteuropa-Forscher Rüdiger Ritter sieht ihn als «Teil einer gesamtgesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, an der sowohl Intellektuellen- und Künstlerszenen als auch offizielle Kreise Anteil hatten». In Westdeutschland eher als «Widerlager» gegen die sozialistische Gängelung wahrgenommen, blieb das Festival den Kulturfunktionären der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Deshalb – und wegen des chronischen Devisenmangels – war die Auswahl der Werke und Gäste, wie Ritter zu Recht konstatiert, stets nicht nur ein musikalischer, sondern auch und zumal ein politischer Balanceakt.

Lutz Lesle