Wittener Tage für neue Kammermusik 2012

Dokumentation live

Verlag/Label: WDR 3 wd 12/2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Die Wittener Tage für neue Kammermusik waren im Krisenjahr – 2012 war die Finanzierung des Festivals akut gefährdet – ein musikalisch besonders interessanter Jahrgang, der sich in der Hauptsache auf überdachte Kammermusik- und Ensemble-Formate konzentrierte. Dies soll selbstredend keinen Kausalzusammenhang evozieren oder gar die Außenaktivitäten anderer Jahrgänge schmälern.
Besonders im Fokus stand 2012 Hans Abrahamsen, mit seiner unprätentiösen Klang-Poesie schon öfter zu Gast in Witten. In der vorliegenden repräsentativen Auswahl von 13 Uraufführungen ist er allerdings nur mit den Three Little Nocturnes für Streichquartett vertreten, die mit einem wirr aufgewühlten Tanz auf dem Vulkan im zentralen «Allegro appassionato» überraschen. Es gibt jedoch überzeugendere Kompositionen des Dänen.
Es war eine auffallend streichquartettfreudige Ausgabe im letzten Jahr, was aber nicht bedeutete, dass man aus Finanznot in ästhetische Konventionen flüchtete. Das obligatorische Arditti Quartet bildete mit den Kollegen vom JACK Quartett aufregende Allianzen. James Clarkes 2012-S für zwei Streichquartette ist eines der eindringlichsten Stücke dieser Retrospektive. Knisternde Spannung liegt über dieser Quartett-Fusion, die alle erdenklichen Arten konzertierender Kommunikation zweier Klangkörper durchprobiert und zwischen fein schraffierten Flächen und druckvollen Eruptionen keinen Takt langweilt. Mauro Lanza hingegen interpretiert die prominente Quartett-Symbiose in Der Kampf zwischen Karneval und Fasten als Oktett, das aus fragilen Obertonklängen eine unwirt­liche Unruhe und Geräuschhaftigkeit entwickelt. Eine bemerkenswerte Entwicklung nimmt auch Naomi Pinnocks String Quartet No. 2, dem man zunächst eine gewisse Sprödigkeit attestieren möchte, bevor der Knoten platzt und diese brüchigen Variationen und Wiederholungen größte Intensität entfalten! Sind nicht die besten Stücke die, die uns während des Hörens Lügen strafen?
Die 1979 geborene Britin gehörte zu einer ganzen Reihe bemerkenswerter Witten-DebütantInnen im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren. Dazu zählte auch die Hamburgerin Brigitta Muntendorf. Ihr Sweetheart Goodbye für Stimme, Lautsprecher und acht Instrumente kommt als exaltiert-neurotisches Beziehungs-Spiel mit sich verselbstständigenden Emotionen daher, das mit Textfragmenten aus Joyces Ulysses operiert.
Sehr interessant auch Marko Nikodijevic, der in gesualdo dub/raum mit gelöschter figur Prinzipien des elektronischen Dub auf Klavier und Ensemble überträgt, respektive das klanganalytische Zerrbild eines Gesualdo-Madrigals zeichnet – ein melancholischer Aus­löschungsvorgang, bei dem das Ausgangsmaterial nur in Spuren wahrzunehmen ist. Kaum weniger morbid und schön die vier linien. zweifaches weiß von Klaus Lang, eine irisierende Ensemble-Monochromie in Zeitlupe, die klingt, als hätte der Grazer seine eigene Orgelvergangenheit und Ligetis Lontano gleichzeitig reflektiert – Klang als (minimal) bewegte Luft.

Dirk Wieschollek