Works for Viola Solo

Werke von Georges Aperghis, Gérard Grisey, Salvatore Sciarrino, Bernd Alois Zimmermann

Verlag/Label: NEOS 10920
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5


Die Bratschistin Anna Spina drängt es hinaus ins Offene. Nach musikalischen Grenzen sucht sie geradezu, um diese in lustvoll intellektuellem Spiel zu überwinden. Eine Bilderstürmerin ist sie dennoch nicht. Viola studierte die 1971 Geborene an den Musikhochschulen in Bern und Zürich. Danach sollte Anna Spina ihre Nase oft und stets furchtlos in den Wind halten. Unter anderem absolvierte sie in den Jahren nach ihrem Konzertdiplom noch das Performancediplom «théâtre musical» bei Georges Aperghis und Françoise Rivalland und ließ sich von Issam El-Mallah in die Geheimnisse des arabischen Tonsystems einführen. Diese erforschte sie danach eingehender in der Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Geiger Abdou Dagher. Ansonsten gilt Anna Spinas beson­deres Interesse der mikrotonal und spektral organisierten Musik. Diese Leidenschaft kultivierte sie in den vergangenen Jahren unter anderem in einer Reihe interkultureller Projekte.
Diese Leidenschaft prägt auch die hier vorliegende CD, mit der die Musikerin die Schweizer Fachpresse zu Lobeshymnen hinriss. Es ist an der Zeit, auch an dieser Stelle auf diese dramaturgisch so fein disponierte wie technisch-musikalisch brillante Produktion aufmerksam zu machen. Anna Spina hat hier Werke für Viola solo von Georges Aperghis, Gérard Grisey, Salvatore Sciarrino und Bernd Alois Zimmermann eingespielt, Werke, an denen Viola-Spieler nicht vorbeikommen, so sie mehr wollen als immerzu fein gehäkelte Transkriptionen spielen, die im Original für Violine gesetzt sind.
Jede der hier versammelten Kompositionen reflektiert die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, indem sie die Errungenschaften der zweiten Hälfte dieses andauernd in Aufbrüchen befindlichen Jahrhunderts nutzen. Als historisches und stilistisches Gravitationszentrum hat Spina die Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann gewählt, komponiert 1955 als zwölfteiliges Requiem auf den Tod seiner Tochter Barbara. Zimmermann gab der Musik den Untertitel … an den Gesang eines Engels. Die Assoziation zu Alban Bergs Violinkonzert mit ähnlich lautendem Untertitel ist als Reverenz an Bergs rigorose Verdichtung der tradierten Form zu verstehen. Ansonsten gilt: Nur wer das Ende von Zimmermanns Komposition, in das der Lutherchoral «Gelobet seist du, Jesu Christ» harmonisch schmerzlich verfremdet implantiert ist, nicht ebenso konsequent als Anfang denkt und musiziert wie Anna Spina, wird diese karg scheinende, aber dennoch hoch komplexe Musik nicht erfassen, insbesondere nicht ihre unglaublich fein justierten Grenzgänge zwischen scharf fokussiertem Ton und geräuschhaft ausfransenden Tonrändern.
Um den Zimmermann’schen Monolith herum gruppiert Spina als dessen späten Nachhall Aperghis’ Volte-Face (2001), Sciarrinos Ai limiti della notte und Tre notturni brillanti (1974) sowie Griseys Prologue (1976) – Musiken, die sprachlos den Gestus von Sprache auf je eigene Weise thematisieren. Dass diese Musiken von fragiler Verfassung nicht einfach zu einem Katalog der artistischen Errungenschaften der Moderne werden, ist dem fein abwägenden Ohr Anna Spinas für Klangvaleurs und -mixturen zu verdanken.  

Annette Eckerle