Abrahamsen, Hans

Zählen und erzählen

Four Pieces for Orchestra | Concerto for Piano and Orchestra | Ten Studies for Piano

Verlag/Label: Winter & Winter, W&W 910216-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4


Der Däne Hans Abrahamsen (geboren 1952) legt eine sympathische Eigenwilligkeit an den Tag, wenn es darum geht, sich völlig unbeeindruckt von aktuellen kompositorischen Trends und Diskursen zu bewegen. Seine Musik ist voller Reminiszenzen, Erinnerungen und Echos von scheinbar Bekanntem, und doch bringt der Komponist das Kunststück fertig, dass die Traditionsbezüge we­der abgehalftert noch dick aufgetragen klingen. Alles ist verwoben in eine sehr unmittelbar wirkende (und spontan gearbeitete) Poesie, die von bestrickender Einfachheit sein kann (Schnee), in größer besetzten Kompositionen aber auch von dramatischer Dichte.
Die Vier Orchesterstücke (2002–04) sublimieren auf eindrucksvolle Weise ein spätromantisches Orchestervokabular in brüchigen Skizzen, wo fragmentarische Motive, melodische Versatzstücke, Farben und Formen herumgeistern, als befände man sich in einem Traum, der Musik von Mahler oder Berg zum Gegenstand hat. Im zweiten Satz entwickelt das alptraumhafte Züge und exzessive Steigerungen, im dritten funkelt es impressionistisch, im zeitentrückten Finale werden fast regungslose Farb-Fluktuationen und sanfte Pulsierungen von plötzlichen Rissen und langen Denkpausen durchbrochen.
Mit komplexer Polyphonie hingegen wartet das Klavierkonzert (1999– 2000) auf, entstanden nach einer fast zehnjährigen Schaffenskrise des Komponisten. Eine im besten Sinne unvorhersehbare Musik, bei der im Kopfsatz («Allegro volante e nervoso») die Charaktere im Sekundentakt wechseln. Mit einem lyrischen Klaviermonolog («innocente e semplice») beginnt ein «Adagio», das sich im Verlauf in eine rasende Motorik mit abgründigen Zusammenbrüchen hineinsteigert. Hier merkt man, dass Abrahamsen einst Schüler von György Ligeti war.
Einen deutlicher eklektizistischen Ansatz verfolgen die frühen Zehn Studien für Klavier (1983/98), die sich im Wechsel von schnellen und lang­samen «Charakterstücken» unschlüssig zwischen Schumanns Albumblättern und Ligetis Klavieretüden hin- und herbewegen. Abrahamsens nostalgischer Dialog mit romantischer Klavierliteratur kündigt sich schon in Titeln wie «Traumlied», «Ara­beske» und «For the Children» an, und das klingt dann auch so. Virtuose Stücke wie «Sturm», «Boogie-Woogie» oder «Cascades» scheinen in hohem Tempo eher der Komplexität und rhythmischen Verve von Ligetis Etüden zu huldigen. Tamara Stefanovich spielt das ganz wunderbar konsequent, aber es ist auch klar, warum sich Abrahamsen an dieser Stelle anscheinend noch einmal neu erfinden musste. Zufall, dass die kompositorische Fak­tur der vierten Studie sich am Rande des Verstummens bewegt? Ihr Titel: «Ende».
Dirk Wieschollek