Stäbler, Gerhard

ZEICHEN

Gefährliche Ränder / Grauzone(n) / Auf Messers Schneide

Verlag/Label: Navona Records NV 5839
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 86

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 3
Repertoirewert: 2
Booklet: 4
Gesamtwertung: 3

Es ist eine lehrreiche Erfahrung, diese mit 21 Minuten sehr kurze Produktion anzuhören, ohne die CD in den Rechner zu legen, um gleich einen Blick auf die beigefügten «multimedialen Inhalte» zu werfen, die das herkömmliche Booklet ersetzen. Weil das Objekt zum Herumblättern fehlt, ist man nämlich gezwungen, das monochrome Streichorchester-Triptychon zunächst allein über den Höreindruck zu erschließen und die Lektüre der üblichen Hinweise auf Stäblers kompositorische Bezugnahmen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Assoziationen stellen sich dennoch ein, wenn auch wahrscheinlich vom Komponisten eher unbeabsichtigt: Die zu Beginn hörbare Repetition scharfer Klänge, die später erneut auf anderen Tonhöhen beginnen und nach Liegeton-Phasen zu neuen Clustern zusammengefügt werden, erinnern an die grellen Streicherattacken aus Bernhard Hermanns Musik zu Hitchcocks Psycho – ein Eindruck, der sich erst dort verflüchtigt, wo das Geschehen in beweglich summende Klangfelder mündet, aus denen nicht nur der Geist von Xenakis hervorzulächeln scheint.
Dass sich im zweiten Stück dann die Cluster gleitend in Bewegung setzen und glissandierend den Klangraum durchmessen, erscheint ebenso als Konsequenz wie die leisen, von
irregulären Impulsen durchzogenen Texturen des dritten Teils, aus denen sich Momente von Individualität in Gestalt solistisch angestimmter melodischer Bruchstücke auf identischer Intervallbasis herausschälen. Mit anderen Worten begegnet man hier einer Ansammlung von streicherfixierten Klischees aus den vergangenen fünf Jahrzehnten, die man alle schon weitaus prägnanter gehört hat, die Stäbler aber immerhin überzeugend einzusetzen weiß, indem er damit einen der kompositorischen Logik unterliegenden formalen Bogen formt, der am Ende des letzten Stücks wieder in die Repetitionen des Anfangs mündet.
Dass es sich bei alldem um ein Ergebnis handelt, das der Komponist aus seiner kritischen Lektüre litera­rischer Werke Orhan Parmuks und Durs Grünbeins gewonnen hat, erfährt man erst, wenn man Hella Melkerts Booklettext auf der Datenspur der CD liest – was wieder einmal zeigt, dass solche Informationen für die Klangwirkung einer Komposition völlig unerheblich sind, ganz gleich, welche engagierten Gedanken sich der Komponist am Schreibtisch auch darüber gemacht haben mag.
Immerhin hat Stäbler mit dieser Produktion neue medialen Strategien für sich entdeckt: So gibt es die aggressiven Streichercluster à la Psycho auch als einen von zwei fertig aufbereiteten Klingeltönen fürs Handy, so dass man dem Mitbürger im Alltag nun ordentlich zeigen kann, welch radikalem Kunstverständnis man sich verbunden fühlt. Und wer sich dafür interessieren mag, kann während des Hörens die abgespeicherten Partituren aller drei Stücke mitlesen. Diese Option erscheint dann sogar ein wenig subversiv, weil sie der Kritik die Tür öffnet: denn der Blick in die Noten erlaubt ein recht genaues Urteil darüber, dass die Einspielung in Bezug auf Intonation und Präzision des instrumentalen Zusammenspiels doch einiges zu wünschen übrig lässt.
Stefan Drees