Partita Radicale

Zeiten ändern sich

Verlag/Label: Calce # 5787
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 81

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4


Vor einigen Jahren hatte sich das Ensemble gegenwartsnaher Tonkunst aus Rumänien angenommen. Die Verbindung zu dem Balkanland geht zurück auf den Bratscher Thomas Beimel, der sich bei der Komponistin Myriam Marbe in Bukarest fortgebildet hatte. Nun aber lernt man das «Hauptanliegen» der Partita Radicale kennen: die Kunst der Gruppen-Improvisation. 1989 schon fanden sie zusammen. Und obwohl sich die Zeiten geändert haben, wie der Titel ihrer neuesten CD bestätigt, hängen sie im­mer noch schöpferisch aneinander: Karola Pasquay und Ortrud Kegel (Querflöte), Ute Völker (Akkordeon), Gunda Gottschalk (Vio­line) und Thomas Beimel (Viola).
Keine normverdächtige Besetzung. Sie ergab sich vielmehr, wie das Beiheft vermerkt, aus «menschlich-künstlerischer Freundschaft». Dass sie nach 25 Jahren immer noch beisammen sind, führen sie glaubwürdig da­rauf zurück, «dass wir uns vermutlich nicht allzu treu geblieben sind». Vielmehr fingen sie frühzeitig an, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Wie das herrliche Sammelsurium be­stätigt, das sie zum Jubiläum aus ihrem Schallarchiv bargen.
1996 reisten sie für sechs Wochen nach China, um in einem Crashkurs traditionelle Instrumente des Landes spielend zu erkunden und dem We­sen fernöstlichen Musikdenkens näher zu kommen. Ein Fremdheitserlebnis, das in ihre Programme «Back from China» (1997) und «Mr Wang’s New Face» (2004) einging. Dem ersten entstammt die kollektive Wusel- und Gruselmusik Nächtliche Fahrräder. Un­­ter Mitwirkung des in Deutschland lebenden Peking-Opernsängers Wen Lei entstanden eine Kaputte Schallplatte, eine Atemstudie, ein verwunschenes Vögelchen nebst irrlichternden Querflöten Würmchen.
2006 erfanden sie, angeregt durch eine Kölner Museums-Ausstellung («Zum Sterben schön»), ihr mittel­alterliches Totentanz-Programm «Ir muesset alle in diss dantzhus!» Ihm entnahmen sie die Titel Socorro – eine Improvisation über die Chanson Secourés moy des Flamen Gérard de Turnhout (1520–80) – und eine quälend lange Slow-Motion-Improvisation über das Sterben (Transitio).
Gemeinsam mit der Düsseldorfer Pianistin Sabine Roderburg entwickelte man 2008 für die Bergische Biennale für Neue Musik das Programm «Incontro»: Reflexionen und Fortschreibungen moderner Klavierwerke, darunter eine Paraphrase über Amores von John Cage (1943 für zwei präparierte Klaviere und zwei Schlagzeugtrios komponiert). 2010 tauchte die Partita Radicale erneut ins Mittelalter, diesmal in die zitierfreudige Stilsphäre der Ars subtilior. Gespielter Witz geht dem Witz des Selbstzitats nach. Diktafonie – inspiriert von zwei bürokratischen Aufführungsorten (dem Finanzamt Wuppertal und der Solinger Industrie- und Handelskammer) – treibt verspielten Schabernack mit der veralteten Technik des Diktaphons.
Das Programm «am schönsten ist es doch zuhause» von 2011 ist eine radikale Antwort auf die Verdrängung widerständiger Kultur aus dem öffentlichen Raum. Deren Rückzug ins Private persiflieren eine «hausmusikalische» Sitzmöbelmusik und eine diesbezügliche Collage aus Probenabfall. Bach im Schauspielhaus aus der jüngsten Produktion «as time goes by» betrauert die Schließung des Wuppertaler Stadttheaters.
Lutz Lesle