Zoom in 8: New Music from Lithuania

Werke von Ramunas Motiekaitis, Sarunas Nakas, Marius Baranauskas, Bronius Kutavicius, Juste Janulyte, Onute Narbutaite

Verlag/Label: Lithuanian Music Information and Publishing Centre, LMIPC CD 05
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 3
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Unter dem Titel Zoom in bringt das Litauische Musikinformations- und Publikationszentrum alljährlich eine Blütenlese neuer Musik aus Litauen auf CD heraus. Jüngste Komponistin der achten Ausgabe ist Juste? Janu­lyte?e(*1982). Ihre white music wurde 2004 in Vilnius zur besten Kammermusik, textile 2008 zum besten Orchesterwerk des Jahres gekürt. Elongation of Nights – der Titel trifft die Idee des Stücks: Wie im Herbst das Tageslicht abnimmt und die Nächte länger werden, so verdrängt hier eine Schicht der Partitur die andere. Die lichte Zone sinkt mählich ins Bodenlose, während sich das «nächtige» Band des gewonnenen Freiraums bemächtigt. Die 21 Einzelstimmen der Streicher verwebt Janu­lyte?ezu monochromen Klangfeldern, deren Harmonik sich einzig auf Quinten gründet. Morton Feldmans stillstehende Musik und die Klanggespinste Ligetis aus den 1960er Jahren grüßen von fern.
Marius Baranauskas (*1978) – auch er mehrfach preisgekrönt – komponierte 2008 im Auftrag des Gaida Festivals Three Visons after Tagore für gemischten Chor. Der Lettische Rundfunkchor bereitete ihnen in der Katha­rinenkirche zu Vilnius eine einprägsame Uraufführung, nicht zuletzt dank seiner beneidenswerten «Bassi profondi». Die dritte Huldigung «In My Salutation to Thee» atmet den Geist orthodoxer Frömmigkeit. 2009 hob derselbe Chor die Symphonie de Septembre von Ramu¯nas Motiekaitis (*1976) beim Gaida-Festival aus der Taufe. Im Einsatz spektakulärer stimmlicher Mittel eher zurückhaltend, harmonisch weitläufig tonal, rührt der Komponist (und Kulturwissenschaftler) an die Kindheitserinnerungen, de­nen Oscar Milosz, der französische Dichter litauischer Herkunft, in seinem September-Gedicht wehmütig nachhängt.
2008 errichtete der Komponist, Essayist und Hörfunk-Moderator Ša­ru¯nas Nakas (*1962) dem Klarinettisten Algirdas Doveika ein Erinnerungs­mal aus leuchtkräftigen Klangblöcken. Icon of Fire für Bläser, Streicher und Klavier ist inspiriert von Vers 15,2 der Johannes-Offenbarung: «Dann sah ich etwas wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemengt …» In der Beschränkung, die sich Bronius Kutavicius in den Fünf Miniaturen auf Verse seines im Dezember 2008 verstorbenen Dichterfreunds Sigitas Geda auferlegte, offenbart sich der wahre Meister der Töne. Mehrere seiner Oratorien, Chorwerke und Kin­dermusiken entsprangen Dichtungen Gedas. Die Five Miniatures für gemischten Chor und Klavierquintett kreisen um Vorahnungen des Todes.
Lapides, flores, nomina et sidera (Cantio secundae novembris) überschrieb Onute? Narbutaite? 2008 ihr gebetsartiges Chorwerk mit Piccoloflöte, Trompete, Posaune und Rührtrommel auf liturgische Texte und die lateinischen Namen von Steinen, Blumen und Sternbildern. Von Psalmtönen, der Formel Requiem aeternam und dem Responsorium Libera me «unterwandert», nimmt die Musik den Charakter einer Allerseelen-Prozession an. Hingebungsvoll singt der Städtische Chor Vilnius «Jauna muzika» hier den vierten Teil «Corona stellarum».
Lutz Lesle