Holzer, Andreas

Zur Kategorie der Form in neuer Musik

Reihe Musikkontext, Band 5

Verlag/Label: Mille Tre, Wien 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 100

Begriffe, die wir weder erfunden haben noch abschaffen können, bereiten uns immer dann Probleme, wenn ihr semantischer Radius mit unserem Erfahrungshorizont nicht mehr zur Deckung kommt. «Form» ist ein solcher terminus problematicus, und das nicht erst seit der Frühzeit der neuen Musik. Wer ihn allerdings auf das kompositorische Schaffen seit 1900 anwendet, sieht sich spätestens dort vor Begründungs- und Erklärungsprobleme gestellt, wo Komponisten nicht mehr die Kategorie des Werks für ihr Schaffen reklamieren. Ein Blick auf die vielgestaltige Kompositionslandschaft (einschließlich ihrer ästhetischen Reflexion) der vergangenen hundert Jahre lässt erahnen, dass eine Aufarbeitung und Aktualisierung der Kategorie «Form» selbst nur ein work in progress sein kann, für den mittlerweile eine ganze Armada von Referenzen musikwissenschaftlicher, philosophischer, soziologischer u. a. Provenienz in Stellung gebracht wird.
Zu den besonderen Vorzügen des vorliegenden Bandes gehört es, dass ein klug disponiertes Tableau zum Formbegriff als einer übergreifenden Kategorie (Kapitel I-III) mit 13 Einzelanalysen (Kapitel IV) gewissermaßen zur Anschauung gebracht wird. Dabei vermisst der Autor das weite Diskursfeld sehr genau (das Literaturverzeichnis umfasst über 430 Titel!), gibt ihm aber zugleich eine plausible und die Komplexität reduzierende Struktur. So wird etwa im ersten Kapitel das Bedeutungsspektrum der Begriffe «Material», «Struktur», «Form» und «Werk» ausgelotet und deren historische Bedingtheit herausgearbeitet, wobei Holzer auch ein assoziatives Verständnis von Form thematisiert und – mit Blick auf den Formbegriff bei Christian Wolff – die Frage aufwirft, wie weit der Begriff dehnbar ist, ohne seinen essenziellen Kern zu verlieren.
Das zweite Kapitel («Form und Sinn») referiert philosophische und kunsttheoretische Konzepte vom Amerikanischen Transzendentalismus (Emerson, Thoreau) über den Russischen Formalismus und die Positionen von Adorno, Eco, Luhmann und Bourdieu bis hin zu postmodernen Entwürfen. Das dritte Kapitel thematisiert in einem chronologisch gegliederten Streifzug «Ästhetische Positionen» von Schönberg und Busoni bis zur unmittelbaren Gegenwart mit den Schwerpunkten «Dialektischer Strukturalismus», «Komplexismus», «Spekt­ralismus» und «Dekonstruktivismus». Dabei wird «Ästhetik eher als Reflexion über die Wahrnehmung verstanden denn als Theorie über diese selbst.» (A. H.) Den instruktiven Einzelanalysen des vierten Kapitels (Kompositionen von Debussy bis Isabel Mundry) schließt sich ein ausführlicher Exkurs an, der – fokussiert auf «Prinzipien der Formbildung als Strategien künstlerischen Handelns» – mit Chiffren wie Proportion, Reihung, Raum, Schichtung, Transformation, Rhizom u. a. die Geburt der Form aus dem Geiste der schöpferischen Ratio beleuchtet.
Mit drei pragmatischen Eingrenzungen hat Holzer versucht, den Blick des Lesers sehr genau auf die leitende Fragestellung seiner Arbeit zu lenken. Das betrifft insgesamt die Beschränkung auf Werke westlicher Provenienz und die Ausklammerung von Vokalmusik sowie im Analyseteil die ausschließliche Berücksichtigung von Kompositionen, die «dem traditionellen ‹festen› Werkbegriff verhaftet» sind – eine Eingrenzung, die der erhofften «Nachvollziehbarkeit vermittels Partitur» geschuldet ist.
Peter Becker