Geiger, Friedrich / Hentschel, Frank (Hg.)

Zwischen «U» und «E»

Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950 (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Band 27) | 207 Seiten

Verlag/Label: Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 84

Für Sympathisanten des Crossover mag der «Boogie» in der «Arietta» von Beethovens Opus 111 ein utopischer Vorgriff auf die Versöhnung von Hohem und Niederem in der Musik sein, zaghaft versuchte Nähe. Wenn sich nun aber Helmut Lachenmann im Deutschlandfunk als ziemlich bester Freund von Helge Schneider outet, dann allerdings steht zu vermuten, dass solche Nähe endlich gelungen ist, oder besser gesagt, dass sie gelingen kann, wenn nämlich – mit Hölderlin zu sprechen – eine Voraussetzung gegeben ist: die «Nachbarschaft auf den entferntesten Bergen».
Von solchen Bergen und von einer Nachbarschaft, die sich über vermeintlich unüberbrückbare Distanzen hinweg befruchtend zu bewähren scheint, ist im vorliegenden Band die Rede: Pachelbel und Mozart, Cage und Xenakis, Bob Dylan und Leonard Bernstein, Piazzolla und Strawinsky und Joni Mitchell – ein alpines Panorama von eindrucksvollem Umriss. Der Leser wird behutsam über ein vormals ästhetisch wie ideologisch vermintes Gelände gelotst, das David Clarke exemplarisch erkundet: «Elvis and Darmstadt». Sodann erfährt er, dass und wie die Grenzen zwischen U und E nach und nach poröser geworden sind, und dass sich insgesamt mancherlei Osmosen zwischen den musikalischen Kulturen ausgebildet haben.
So zeichnen Bernd Sponheuers theoretische Überlegungen zu «Popmusik und Kunstreligion» den Weg «von den metaphysischen Höhen des 19. Jahrhunderts zur kompakten Körperlichkeit der modernen Pop-Kultur» nach, während Wolfgang Rathert auf die pessimistische Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Leonard Bernsteins Mass abhebt. Oliver Huck spürt dem je eigenen kompositorischen Verhältnis zum Tango bei Piazzolla und Strawinsky nach. Jan Clemens Moeller und Albrecht Schneider widmen sich dem unverwechselbaren und orchesternahen Gitarrensound von Joni Mitchell. Und Dirck Lincks Exegese eines der Vorgefundenen Gedichte von Horst Bienek sowie die Reflexion über Claes Oldenburgs The Store von Michael Lüthe und Bernhard Schieder markieren das Umfeld der Pop-Art, die Grenzüberschreitungen seit je zu ihrem Programm erhoben hat.
Friedrich Geigers Untersuchung zu Klassik-Entlehnungen in der Popmusik berührt sich mit Helmut Rösings Notaten zur popkulturellen Adaption von Mozarts Leben und Werk. Und der abschließende Beitrag von Albrecht Riethmüller kommentiert einen Härtetest, den Iannis Xenakis’ Vertonung des Chortextes «Viel sind der Wunder…» nach Sophokles (Antigone) im Rahmen einer «Woche der leichten Musik» des SWR 1962 nicht bestanden hat. Das Werk fiel aus diesem Rahmen: es ward gewogen und zu schwer befunden. Mit seiner Programmnotiz hat Xenakis eine Einladung ausgesprochen, über den vermeintlichen Hiatus zwischen dem Leichten und dem Schweren in der Musik nachzudenken, der allen Texten des vorliegenden Bandes eingeschrieben ist. Wie er zu überwinden sei? «Eine Musik ohne Prätention gibt es nicht.» Prätention hier wie da, bei E wie U wäre hinzuzufügen. Xenakis’ Antwort liest sich dann wie ein Brückenschlag zwischen den entferntesten Bergen.

Peter Becker