Lanz, Doris

Zwölftonmusik mit doppeltem Boden

Exilerfahrung und politische Utopie in Wladimir Vogels Instrumentalwerken

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 88

Während er als Komponist wenig Gehör fand, bekennen bzw. bekannten sich etliche Schüler zu ihrem Zwölfton-Lehrer Wladimir Vogel, unter ihnen die Schweizer Rolf Liebermann und Jacques Wildberger oder die Finnen Erik Bergman und Einojuhani Rautavaara. 1896 in Moskau geboren, kam der vom russischen Expressionismus geprägte Sohn eines sächsischen Einwanderers 1918 nach Berlin, wo er die Meisterklassen Ferruccio Busonis besuchte, dessen Ideen einer «neuen Ästhetik der Tonkunst», «Jungen Klassizität» und «Einheit der Musik» er sich zu eigen machte. 1933 emigrierte Vogel in die Schweiz. Er starb 1984 in Zürich, wo die Zentralbibliothek seinen Nachlass verwahrt. Wie Ober- und Untertitel des
Buches anzeigen, ging es der Berner Doktorandin in ihrer Dissertation nicht um einen Aufriss von Leben und Werk des Deutsch-Russen, das Hans Oesch schon 1967 ausführlich beschrieb. Nachdem Friedrich Geiger 1998 Vogels Dramma-Oratorien unter die Lupe genommen hatte, ohne dessen kommunistische Vergangenheit und politisches Engagement auszublenden, fühlte sich Doris Lanz herausgefordert, der Wechselwirkung von Lebensumständen, politischen Überzeugungen, ästhetischen Maximen und dodekaphonem Komponieren im Schaffen Vogels nachzuforschen – getrieben von der Kardinalfrage, wie sich zählebige historiografische Paradigmen (musikalische Heroengeschichte, Autonomie des Kunstwerks, Kanonbildung, material-fixiertes Fortschrittsdenken) Bahn brechen und halten konnten.
Ihre Arbeit durchdringt drei Themenkreise: Vogels ästhetische Grundüberzeugungen (Stichworte: fassliche zwölftönige musique directe, formschöne musique intétrée) und ihre Spuren im Werk, «Verträglichkeiten und Kollisionen» mit zeitgenössischen Musikanschauungen (Darmstädter Dok­trinen hüben, Sozialistischer Realismus drüben) und die Auswirkungen ideologisierter Musik­ge­schichtsschreibung, aufgerollt am Fall­beispiel des «historiografisch vernachlässigten» Vogel. Ihre Werkauswahl trägt der Kompositionsmethode Rech­nung, der sich Vogel seit Mitte der 1930er Jahre befleißigte, ohne im Hauptstrom der diskurs-bestimmenden Avantgarde mitzuschwimmen. Was ihm den Zugang zu den Foren Neuer Musik erschwerte.
Die Frage, warum Vogel erst relativ spät (im letzten Satz des Violinkonzerts) die Zwölftontechnik anwandte, führt die Autorin zu Hanns Eisler, der die Dodekaphonie damals zum Mittel ästhetischen Widerstands gegen den Faschismus erkor. Den Ausschlag gab anscheinend dessen Streichtrio op. 46, dem eine b-a-c-h-Sequenz als Reihe zugrunde liegt. Die Ähnlichkeiten zwischen Eislers Fuga und Vogels Scherzando dürften kaum zufällig sein.

Lutz Lesle