Rihm, Wolfgang
11. Streichquartett / Interscriptum / Grave
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
«Wir sind Spezialisten für Musik», betont die Geigerin Annette Reisinger, solcherart hervorhebend, dass das Minguet Quartett sich weder auf ältere noch auf «neue» Musik begrenzen oder gar reduzieren lassen will. Mit erlesener Klangkultur widmet es sich dem gesamten Spektrum der Quartettliteratur; bevorzugte Komponisten auf dem Feld des Zeitgenössischen sind Wolfgang Rihm, Peter Ruzicka und Jörg Widmann.
Rihms einschlägigen Werken gilt auch die jüngste CD-Veröffentlichung, wobei für Interscriptum der Pianist Markus Bellheim hinzutrat. Techniken der «Übermalung», der Übertragung bereits verwendeten Materials auf andere Zusammenhänge oder auch der «Einschreibung» neuer Schichten, die ein existentes Werk erweitern, verändern oder umwandeln, sind im schöpferischen Kosmos Rihms an der Tagesordnung. Anders wäre die Flut an Projekten, trotz größter Produktivität, auch gar nicht zu bewältigen, doch dieses Konzept beruht nicht nur auf Pragmatismus. Es deckt sich auch mit Rihms künstlerischem Impuls, seine Werke als Wuchsformen zu begreifen, die sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln.
Interscriptum (2000/2002) benennt das kompositorische Prinzip im Titel, und der Untertitel «Duo für Streichquartett und Klavier» deutet auf einen Dialog, bei dem das Streichquartett
als «ein Instrument» verstanden wird. Grundlage war das 12. Streichquartett (2000/2001), dem Rihm die Klavierstimme «einschrieb». Die daraus resultierenden musikalischen Perspektiven lotet das Minguet Quartett virtuos aus ebenso mitreißend wie feinfühlig.
Voraus geht Interscriptum das 11. Streichquartett, das Rihm schon 1998 skizzierte, aber erst 2010 vollendete. Dieser für ihn ungewöhnlich lange Entstehungsprozess mag sich darin insofern widerspiegeln, als dass großformal wie auf engstem Raum unterschiedlichste Ausdrucksgehalte, von «romantischen» Allusionen bis zu explosiven gestischen Entladungen, aufeinanderprallen. Das Minguet Quartett erweist sich als kongenialer Sachwalter dieser Tour de Force stets bereit und in der Lage, den klanglichen (und emotionalen) Wechselbädern bis in die Extreme nachzuspüren.
Das im Herbst 2005 entstandene Grave für Streichquartett schrieb Rihm «in memoriam Thomas Kakuska», dem kurz zuvor verstorbenen Bratscher des Alban Berg Quartetts. Trotz der «schweren Gangart» sind dem Duktus von Trauer, Kontemplation und Innenschau latent ans Tänzerische, Hymnische und Aufbegehrende gemahnende Anwandlungen eingewoben, die von den «Spezialisten für Musik» markant herausgearbeitet werden. So gemahnt das Grave, samt punktueller Anklänge an den Trauermarsch aus Wagners Götterdämmerung, über das persönliche Gedenken hinaus eindringlich an die der Tonkunst per se innewohnenden existenziellen Dimensionen. «Vielleicht kann man», so Rihm, «das Stück hören als Folge innehaltender Momente. Das Gehen und das Innehalten sind die natürlichsten Grundgestalten musikalischen Fortschreitens. Durch sie hindurch geht allerdings der Fluss, dem alles angehört, was sich in der Zeit erstreckt. Wir bleiben stehen hören zu gehen weiter. Das Leben.»
Egbert Hiller