Lachenmann, Helmut

«… Zwei Gefühle …» / Pression / Piano Works

Verlag/Label: mode records, mode 252
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Noch bis Ende der 1990er Jahre gab es kaum eine Hand voll Aufnahmen der Musik von Helmut Lachenmann. Erst als es keines Mutes mehr bedurfte, diesen lange Zeit weithin umstrittenen Komponisten zu veröffentlichen, erschienen in schneller Folge CDs mit dessen Solo-, Kammermusik-, Ensemble- und Orchesterwerken. Inzwischen sind viele Stücke in unterschiedlichen Einspielungen erhältlich, zumal die frühen Solowerke und die drei Streichquartette. Allein vom bahnbrechenden Pression für Violoncello solo von 1970 gibt es ein halbes Dutzend Aufnahmen, und selbst vom Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern existieren zwei Editionen. Längst sind es auch nicht mehr nur deutsche oder europäische Labels, die sich für Lachenmanns Musik stark machen.
Die neueste CD des New Yorker Labels mode records zeichnet sich weniger durch ihr Programm als dadurch aus, dass Lachenmann gleich mehrfach als Interpret eigener Werke erscheint: als Pianist der frühen Wiegenmusik von 1963, der Bewegungsstudie Guero und des Zyklus Ein Kinderspiel sowie als Sprecher im großen Ensemblewerk «… zwei Gefühle …», Musik mit Leonardo, von dem bisher schon drei Aufnahmen vorlagen und das Ensemble musikFabrik gegenwärtig eine fünfte vorbereitet. Durch extrem dichte Mikrofonierung führen diese Einspielungen – allesamt 2010 im Experimental Media and Performing Arts Center in Troy (US-Bundesstaat New York) eingespielt – den Hörer dorthin, wo sonst nur der Interpret zu hören vermag. Bei Guero wird deutlich, dass der Flügel selbst durch die minimalen Impulse beim Gleiten des Fingernagels über die Tastatur bereits zu atmen beginnt. Ganz auf Klang getrimmt, fängt dieses Hochleistungsinstrument selbst dann noch zu schwingen an, wenn Komponist und Spieler alles daransetzen, die übliche klavieristische Traktur und Klanglichkeit zu vermeiden. In Pression mutiert das Cello unter verschiedenen Druck- und Bewegungsverhältnissen regelrecht zur Werkbank, auf der Lauren Radnofsky höchst kontrolliert schlägt, schabt, streicht, kratzt, wischt, rattert … Auch beim bloßen Hören ohne Sehen lassen die resultierenden Klänge stets die Art der zu ihrer Hervorbringung nötigen instrumentalen Arbeit erkennen.
Als Pianist ist Lachenmann nicht durchweg sein bester Interpret. In Ein Kinderspiel klingen bei «Filter-Schaukel» auch ungewollte Töne, und «Schattentanz» fehlt bei gleichwohl deutlich herausgearbeiteter Klanglichkeit die nötige rhythmische Prägnanz und Akzentuiertheit. Als Sprecher seiner Musik mit Leonardo ist Lachenmann jedoch ein Erlebnis. Die mehrschichtige Artikulation des zerlegten und neu zusammengesetzten Textes von Leonardo da Vinci gelingen hier strukturell-musikalisch und semantisch ebenso wie die vielen spannungsvollen Resonanz-Fermaten und Generalpausen. Zudem ist dem Komponisten-Interpreten anzumerken, wie sehr er sich mit Leonardos Forschergeist und der Partie des Sprechers identifiziert, der sich zwischen dem unter Leitung von Brad Lubman präzise agierenden Ensemble Signal aus New York wie durch fauchendes Vulkangelände tastet.

Rainer Nonnenmann