Lachenmann, Helmut

… Zwei Gefühle … und Solowerke

53 min. plus 20 min. Gespräch mit Seth Brodsky, Universität Chicago

Verlag/Label: Mode 252
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 76

Bei Helmut Lachenmann sind auch scheinbar einfache Stücke immer irgendwie vertrackt, und das gilt auch für die sieben kleinen Klavierstücke, die er 1980 unter dem Titel «Ein Kinderspiel» veröffentlichte. Zwar wurden sie seinerzeit auch von seiner kleinen Tochter gespielt, aber im Grunde genommen sind es Spiele für Erwachsene. Es geht hier nicht um poetische Kindheitsbilder in der Art von Schumann oder Debussy, sondern um eine ziemlich harte Schule der Wahrnehmung. Die dem oberflächlichen Hören simpel erscheinenden Tonkonstellationen sind Resultat einer ausgeklügelten Logik, die auch das Unvorhersehbare mit einschließt. Dem musikalischen Verlauf folgt man mit gespannter Aufmerksamkeit, etwa wenn ein einfacher, ständig wiederholter Klangbaustein nach und nach die ganze Tastatur hinunterrutscht und am Schluss in einer Klangwolke verschwindet, oder wenn bei einem hartnäckig repetierten Akkord jedesmal andere Töne nachklingen. Dass der Komponist in diesen Stücken – auch in «Guero» und «Wiegenmusik» – als sein eigener Interpret auftritt, macht die Sache besonders spannend. Selbstvergessen und hoch konzentriert sitzt er am Klavier. Manchmal wirkt er auch fast wie ein Kind, das sich in das Spiel mit seinen klingenden Bauklötzen versenkt hat, um daraus seine fintenreichen Akkordketten und Zweifingermelodien zu konstruieren.
Während die Kamera das Geschehen hier meist distanziert beobachtet, rückt sie beim Cellostück «Pression», einem Schlüsselwerk für Lachenmanns Erforschung der instrumentalen Klangmöglichkeiten aus dem Jahr 1970, der Interpretin Lauren Radnofsky direkt auf den Leib. Indem sie jede noch so kleine Bewegung in Nahaufnahme dokumentiert, wirkt sie beinahe wie eine audiovisuelle Spielanleitung für das Stück. Wer die erforderlichen Stricharten, Spielorte und Grifftechniken genau studieren will, findet hier eine Art virtuellen Workshop vor.
Konfrontiert werden diese älteren Stücke mit «… Zwei Gefühle …, Musik mit Leonardo», der schwergewichtigen Komposition von 1992, die später auch im «Mädchen mit den Schwefelhölzern» eine zentrale Rolle spielen sollte. Die Interpreten sind das New Yorker Ensemble Signal unter der Leitung von Brad Lubman und wiederum Helmut Lachenmann. Wie oft im Konzert, spricht er auch hier den Text von Leonardo da Vinci selbst. In den scharf artikulierten Sprachfetzen konkretisiert sich die Dialektik von Furcht und Neugier im Anblick des geheimnisvollen dunklen Höhleneingangs in einer Klanggestalt, die große innere Erregung verrät und zugleich stilisiert wirkt wie eine gezackte gotische Architektur. Die Kamera, die zwischen den Musikern herumwandert, setzt die Spannung in Bilder voller Unruhe um.

Max Nyffeler