Moritz, Reiner E.

A History of Dance On Screen

Filmdokumentation

Verlag/Label: Arthaus 101 690 (DVD) | 90 Minuten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 80

«Der Tanz ist die menschlichste Kunst», sagt der Choreograf John Neumeier, «der Körper ist zugleich Subjekt und Instrument der Darstellung.» Der Tanz ist auch die einzige traditionelle Kunstform, die sich medial nur im Film wiedergeben lässt. Während Instrumentalmusik, Oper und Theater auch rein akustisch gespeichert werden können, benötigt der Tanz als reine Bewegung das bewegte Bild – er fordert den ganzen Körper, ist aber stumm. Daher ist es nicht verwunderlich, dass seine Entwicklung in den letzten 120 Jahren eng an das Medium Film gebunden gewesen ist, das Ende des 19. Jahrhunderts aufkam.
Der Film wurde für den Tanz nicht nur als Dokumentationsmedium unentbehrlich, sondern auch zu einem künstlerischen Partner, der einen tiefgreifenden Einfluss auf die Choreografien ausübt. Bloßes Abfilmen von Aufführungen ist schon längst passé. In einem ernst zu nehmenden Ballettfilm werden heute Choreografie und Videoregie stets gemeinsam entwickelt. Und wie nachteilig sich fehlende Aufzeichnungen für die Ballettgeschichte ausnehmen, zeigt das Beispiel der «Ballets russes»: Kei­ne von Djagilews Choreografien ist auf­gezeichnet worden. Das macht auch jede Rekonstruktion der Originalchoreografie des Sacre du printemps zu einer spekulativen Angelegenheit – es gibt davon nur Beschreibungen und Bilder.
Die erste bewegte Tanzaufnahme machten die Gebrüder Lumière 1896 mit dem Serpentine Dance von Loïe Fuller, einer Bewegungs- und Lichtstudie, bei der die Tänzerin mit langen Tüchern abstrakte Figuren in den Raum zeichnet. Die jüngsten Resultate dieser Symbiose zwischen Tanz und Film verbinden das tänzerische Geschehen mit computergenerierter virtueller Realität, zum Beispiel Christopher Wheeldons Tanzfilm Alice, basierend auf einer Choreografie mit dem Royal Ballet an Covent Garden von 2011. Oder sie verlassen die Theaterbühne und stellen die Choreografie in eine Alltagsumgebung, in den Pub oder auf die Straße. Die Filmaufzeichnung trägt in einem solchen Fall maßgeblich zum Kunstcharakter der Aktion bei.
Die Verlagerung des Geschehens ins Freie bringt weitere Grenzüberschreitungen mit sich. In den verallgemeinernd «Street Dance» genannten Formen arbeiten professionelle Tänzer und Choreografen mit Jugendlichen, häufig auch Immi­granten, zusammen. Für sie – genauso wie für die Behinderten im phänomenalen Rollstuhlballett Outside In von Victoria Marks – bedeutet Tanzen zugleich Ausprägung und Darstellung ihrer Außenseiter-Identität: Tanzperformance als psychosoziale Aktion.
Die faszinierende Entwicklung des Tanzes im 20. und frühen 21. Jahrhundert vom hoch stilisierten klassischen Ballett zur experimentellen Körperperformance wird auf der DVD A History of Dance On Screen von Reiner E. Moritz mit einem unerhört reichhaltigen Bildmaterial dokumentiert. Der Film, der im Auftrag des Internationalen Musik- und Medienzentrums Wien (IMZ) entstand, kombiniert weltweite Archiv­recherchen mit aktuellen Aufnahmen und Kommentaren. Einen Schwerpunkt bilden die Ausschnitte aus Originalchoreografien mit Ikonen der Tanzgeschichte: die eine neue Freiheit des Körpers zelebrierenden Solotänze der Isadora Duncan, aufgenommen 1920, der wild expressionistische Hexentanz von Mary Wigman (1926), Martha Grahams karge, abstrahierende Darstellung des amerikanischen Siedlerlebens in Appalachian Spring (1958) zur Musik von Aaron Copland, das in seiner zeitlosen Schönheit kaum je wieder erreichte Solo Der sterbende Schwan der Anna Pawlowa nach einer Choreografie von Michel Fokine in einer Aufnahme von 1924, Fred Astaires genialer Tanz mit dem Hutständer aus dem Film The Royal Wedding (1951), Auftritte des Ausnahmetänzers Rudolf Nurejew noch aus den 1950er Jahren, neuere Produktionen von Sasha Waltz und vieles andere.
Kommentiert wird diese Materialfülle von namhaften Künstlern, angefangen von Leslie Caron, die über den einschneidenden Einfluss des Broadways auf die Entwicklung des Tanzes spricht, über Valery Gergiev mit Ausführungen über das russische Ballett und die Funktion der Musik bis zu Choreografen wie Alvin Ailey, John Neumeier, Matthew Bourne und Yuri Fateev, Ballettdirektor am Marinsky-Thea­ter in Sankt Petersburg. Ballettfachleute wie Clement Crisp, Bob Lockyer, der «Mr. Dance» der BBC, und Brigitte Kramer steuern kompetente Kommentare aus Beobachtersicht bei. Das Panorama der künstlerischen Erscheinungsformen, das dabei Gestalt annimmt, ist beeindruckend und lässt auch alte, klischeehafte Gegensätze wie «klassisch» und «modern» als nebensächlich erscheinen. Die Dokumentation zeigt: Die modernen Medien haben dem Tanz einen gewaltigen Kreativitätsschub verpasst. Er ist lebendiger denn je und lässt sich in keine Begriffsschubladen einteilen.

Max Nyffeler