Nemtsov, Sarah

A long way away. Passagen / Hoqueti

Porträt-CD des Deutschen Musikrats

Verlag/Label: Wergo, Edition Zeitgenössische Musik WER 65852
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Die Fortsetzungsreihe «Edition Zeitgenössische Musik», die der Deutsche Musikrat seit 1986 als Herausgeber veröffentlicht, stellt in einer seiner aktuellen Ausgaben die 1980 in Oldenburg geborene Sarah Nemtsov vor. Im Alter von acht Jahren – damals noch unter ihrem Mädchennamen Reuter – schrieb sie erste Kompositionsarbeiten auf Papier. Meisterschülerin, Stipen­diatin, Preisträgerin – der übliche Weg einer begabten Komponistin, die in ihr Werk nicht das Übliche, sondern das Abseitige aufnimmt, nicht den Hauptweg, sondern die Schleichpfade beschreitet, nicht (nur) die Oberfläche, sondern die tieferen Ton-Schichten offen legt. Sarah Nemtsov stellt ihr Werk in den Dienst der Erinnerungskultur, die jedoch nicht von gesellschaftlich-politischer Schuld geprägt ist, vielmehr einen Ansatz im Persön­lichen, in der Auseinandersetzung mit dem «Ich und …» sucht.
«Ein langer Weg vorbei». Diesen Satz können sowohl Hiergebliebene wie Ausgewanderte für sich reklamieren. Sarah Nemtsov benutzt das äußerst kurz gehaltene Resümee eines Lebens oder eines Lebensabschnitts als vierten Passus des zwischen 2010 und 2011 entstandenen Zyklus A Long Way Away. Passagen. Basis dieser 15 Minuten dauernden Sequenz sind vier Erzählungen, die unter dem Titel Die Ausgewanderten 1992 von W. G. Sebald (1944-2001) veröffentlicht wurden. Die Nähe zur Literatur, zur erzählenden Kunst deutet Nemtsov durch die Verwendung einer Schreibmaschine an, die als Symbol des Notierens und des Festhaltens von Gedanken starke Präsenz besitzt. Nahe am Musiktheater entlangtastend, sucht dieses sehr intensiv erlebbare Stück einen Schritt des Erkennens, eine nur bedingt fassbare Erfahrungswiederholung: Vier (jüdische) Männer löschen ihr Leben aus, weil ihnen das eigene Fremdwerden als Belastung erscheint, als ein Weg ohne Ausweg. Sie wandern aus, um sich selbst zu entgehen. Flöten und Klarinetten bilden ein luftiges Erinnerungshimmelszelt und verhindern den Ausflug der Gedanken ins Unendliche. Den Kontrast dazu bilden die manchmal harten Schlagzeugsequenzen, das verhakte Klangpotenzial des präparierten Klaviers und der widerspenstige Kontrabass. Einschneidende Erlebnisse fügen die Streichinstrumente der Erinnerungsebene hinzu, im Hintergrund hämmert die Schreibmaschine die Erinnerungsworte in das Gedankenarchiv.
Auch die fünf weiteren Zykluspassagen (etwa «Verlassene Orte/Berlin», «Central Park/Manhattan» oder «Land­zunge/New Jersey») konzentrieren sich vordergründig auf persönliche Erinnerungsorte – ein Begriff, den der französische Historiker Pierre Nora präg­te, der damit das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft als geografischen Ort oder mystischen Begriff beschreibt – wie den des Schriftstellers Mirko Bonné, der einen von W. G. Sebald beeinflussten Herbst in New York erlebt, auf den wiederum Nemtsov bilddunkel und schattenlos mit klaustrophobischen Klavier- und Melodica-Klängen reagiert. Neben den bereits genannten Schriftstellern belegen Walter Benjamin, Marcel Proust und (in Hoqueti) zusätzlich Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht die Sphären des Erinnerns. Die (Gesangs-)Stim­men in Hoqueti verkörpern die unsichtbare Gestalt des Traums, hingehauchte Rekapitulationswörter und Satzfragmente etwa aus Brechts Buckower Elegien formulieren die Sprachlosigkeit nach dem Ende eines jeden Traumes.

Klaus Hübner