Ives, Charles

A Songbook

Verlag/Label: Hat Hut Records hat[now]ART 183
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 80

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Das Genre des Lieds hat Charles Ives während seiner gesamten kompositorischen Laufbahn beschäftigt. Die ersten Lieder schrieb er bereits als Teenager, und seine letzte vollendete Originalkomposition, Sunrise von 1926, ist ebenfalls ein Lied. Wie es seine Spezialität war, fertigte Ives von vielen seiner Lieder verschiedene Versionen an – für Stimme und Klavier, aber auch mit Begleitung von Instrumentalensembles verschiedener Größe. Und als ob die Angelegenheit noch nicht kompliziert genug wäre, gibt es eine ganze Reihe von Liedern, bei denen Ives eine Orchestrierung lediglich andeutete, diese aber niemals vollendete. Er zeigte sich zudem, vor allem in späteren Jahren, stets offen für die Unternehmungen anderer, seine Musik nachträglich zu komplettieren bzw. zu instrumentieren.
Insofern ist die Idee des Dirigenten und Komponisten Sebastian Gottschick alles andere als abwegig, eine Gruppe Ives’scher Lieder zusammenzustellen und für Stimme und Ensemble zu arrangieren. Gottschick wählte eine Folge von 24 Stücken aus, denen er eine spezielle Dramaturgie zugrunde legte – sozusagen ein fiktiver Tag im Leben des Charles Ives oder, anders gesagt, in der Welt seiner Erinnerungen: von morgendlichen Träumen von Theaterbesuch und Zirkuskapellen (Memories, The Circus Band) bis zur hereinbrechenden Nacht (The Incantation, Evening). Zwischen die einzelnen Lieder sind kurze Instrumentalstücke als Intermezzi eingefügt (z. B. Gyp the Blood oder In the Night). Ives’ reichhaltiger Klavierpart bietet bereits genug Anregungen für eine Instrumentation, und für einige der ausgewählten Lieder (z. B. The Incantation) gibt es bereits von Ives persönlich angefertigte Ensemblefassungen. Gottschick jedoch entschied sich dafür, eine eigene Klangwelt zu kreieren, die zwar genau zum Charakter der einzelnen Stücke passt, aber stets auch neue Dimensionen eröffnet, sowohl auf kontrapunktisch-motivischer Ebene als auch auf rein klanglicher, etwa durch Instrumente wie das Vibrafon.
Das ensemble neue musik zürich, mit dem Gottschick regelmäßig zusammenarbeitet, erhält reichlich Gelegenheit, seine Virtuosität ebenso zu demonstrieren wie sein Verständnis des für Ives so typischen Humors – auch die Instrumentalisten müssen sich gelegentlich vokal betätigen. Die beiden Vokalisten – Mezzosopranistin Jeannine Hirzel und Bariton Omar Ebrahim – zeigen viel Einfühlungsvermögen in Ives’ ständig wechselnde Stimmungen und Tonfälle vom auftrumpfenden Marschlied über das lyrische Nachtstück bis hin zur aphoristisch aufgesplitterten Atonalität. Dabei sei nicht verschwiegen, dass den Interpreten die kontemplativen, impressionistisch anmutenden Stücke besser liegen als jene Lieder, bei denen in erster Linie Temperament und Respektlosigkeit gegen die hehre Liedtradition gefragt sind. Nichtsdestoweniger liegt hier ein äußerst gelungener Versuch vor, die Ives’sche Klang- und Gedankenwelt auf kreative Weise weiterzuentwickeln.

Thomas Schulz