Zimmermann, Bernd Alois

Alagoana | Sinfonie in einem Satz | Photoptosis | Stille und Umkehr

Verlag/Label: Capriccio C5213
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Der Urknall von Strawinskys Sacre zittert auch noch vierzig Jahre später in der fulminanten Ouvertüre von Zimmermanns 1954 vollendeter Ballettmusik Alagoana nach. Die fünf «Caprichos Brasileiros» kennzeichnen gegeneinander laufende Ostinati, abrupte Dynamik-, Klang- und Tempowechsel sowie motivische, instrumentatorische und rhythmisch-metrische Gesten am Rande wört­licher Zitate. Zuweilen anklingende neoklassische Betulichkeit und neoromantisches Sentiment werden durchkreuzt von ungestümen Eruptionen oder gespenstischem Verblassen der Klänge. Ekstatisch drängende Motorik kulminiert in schwül erhitzten Atmosphären und in einem lustvoll sich entladenden Höhe- und zugleich katastrophischen Explosionspunkt. Danach ist der Élan vital der Musik wie erstarrt, als habe sich unvermutet der lähmende Schrecken des jüngst vergangenen Weltkriegs darüber gelegt. Fortan wird sich der solcherart gebrochene Wille zu Tanz und Freude am Leben nicht mehr erholen, jedenfalls nicht auf dieser CD, deren Werkauswahl das genialisch-düstere Porträt eines von Traumata und Tod überschatteten Musikschaffens zeichnet.
Zimmermanns 1947 begonnene und in überarbeiteter Fassung 1953 vollendete Sinfonie in einem Satz beginnt mit einer direkten Folge von Aufschrei und Schlag. Von diesem initialen Schock versucht sich das Werk durch Gewaltmärsche zu befreien. Doch Momente gespannter Ruhe lassen nur noch größeres Unheil erahnen und treiben unerbittlich weiter zum apokalyptischen Höhe- und Schlusspunkt: Die Expressivität von Mahlers einstündiger «tragischen» sechsten Sinfonie scheint hier auf 14 Minuten komprimiert. Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz spielt unter Leitung ihres Chefdirigenten Karl-Heinz Steffens mit eben der Intensität, die diese existenzielle Musik verlangt. Dem Spiel um Leben und Tod folgt die Aufnahmetechnik jedoch nur mit Vorbehalt, wenn sie massige Tutti-Kulminationen herunterregelt.
Die im Zeitraffer durch Zimmermanns Œuvre jagende CD der auf der Grundlage von Einspielungen des Deutschlandradio bei Capric­cio erscheinenden Reihe «Modern Times» wendet sich mit Photoptosis vollends ins Fatale. Das großbesetzte Werk von 1968 erschüttert durch seine Starre und Kälte. In die extrem dunkle Instrumentation zittern nur wenige Lichtpunkte hoher Holzbläser und eisig pfeifender Violinen. Die Musik führt durch Staub, Trüm­­mer, Tumult. Sie ist ein entschiedener Gegenentwurf zu Schiller-Beethovens humanistisch hoffnungsfroher Ode an die Freude, wie das Zitat der «Schreckensfanfare» aus dem Finale von Beethovens Neunter unterstreicht. Den schicksalhaften Schlusspunkt setzt endlich Stille und Umkehr aus dem Jahr von Zimmermanns Freitod 1970. Von seiner einst intendierten Polystilistik aller musikalischen Epochen, Stile und Mittel bleibt hier kaum mehr als ein tinnitusartig kreisender Einzelton – ohne Umkehr vor dem endgültigen Schweigen.

Rainer Nonnenmann