Klein, Tobias Robert
Alexander Zemlinsky Steve Reich. Alternative Moderne(n)
«Afrika» in der Kompositionskultur des 20. Jahrhunderts
Der Titel mag sperrig erscheinen, doch die orthografischen Besonderheiten sind notwendig, um das Thema präzise zu umreißen. Die Symphonischen Gesänge op. 20 von Alexander Zemlinsky und Steve Reichs Drumming und nicht etwa deren Biografie oder Gesamtwerk sind Gegenstand von Tobias Robert Kleins Untersuchung, jedoch nicht um ihrer selbst willen. Die beiden Werke sind Beispiele für das, was im Untertitel angesprochen ist: eine alternative Moderne, oder auch Modernen im Plural. Denn neben der Moderne, so Klein, gibt es gleich mehrere alternative Modelle, die im Buch angesprochen sind: einerseits die neuen Formen, die aus sogenannter traditioneller Musik des afrikanischen Kontinents hervorgegangen sind; zum anderen musikalische Formen der westlichen Welt, die sich im Gegensatz zum Mainstream der Moderne als Teil einer «globalen Ökumene» verstehen. «Afrika» steht in Anführungszeichen, weil es nicht um «afrikanische Musik» geht was immer man darunter verstehen mag , sondern um den Begriff, den sich die beiden Komponisten unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen von «Afrika» machten. Darum geht es in dem Buch.
1929, als der Lehrer Arnold Schönbergs die Symphonischen Gesänge schrieb, führte zum Begriff «Afrika» ein ziemlich weiter Umweg. Es waren die Poeten der «Harlem Renaissance», die in den 1920er Jahren zuerst ein Bewusstsein von «afrikanischer» Identität entwickelten. Was davon von den Gedichten, die Zemlinsky vertonte, ebenso wie von den Diskursen von William Du Bois oder Booker T. Washington in Deutschland ankam, war naturgemäß bruchstückhaft, schon allein aufgrund der Übersetzungen. Man bedenke, dass «feelin blue» im Gedicht von Langston Hughes nicht adäquat übersetzbar und ebenso wenig geläufig war wie das dem Text zugrunde liegende Blues-Schema. Zemlinsky antwortet darauf auch nicht mit Blue Notes und hält sich von gängigen, zur damaligen Zeit modischen Exotismen fern. Mit einer differenzierten Tonsprache plädiert er so Klein ähnlich wie Gustav Mahler in Des Knaben Wunderhorn für «Außenseiter, Eingekerkerte, darbende Kinder, Verfolgte, Verlorene Posten».
Klein analysiert sehr detailliert die Partitur, ebenso bei Steve Reich. Vor allem aber zeigt er, wie sich die beiden Komponisten das fremde Material bei Zemlinsky Texte, bei Reich die Erfahrungen eines Ghana-Aufenthalts aneignen. Dies bedeutet gerade nicht, einen «Einfluss» ghanaischer oder afrikanischer Musik auf Reich zu konstatieren. Vielmehr benötigt der Komponist die Erfahrung des Anderen, um sich in seiner eigenen Vorgehensweise bestätigt zu fühlen, die sich wiederum gegen die damals üblichen Kompositionsweisen abgrenzt. Auf knapp 150 Seiten Literaturverzeichnis nicht mitgerechnet gelingt Klein nicht nur eine bestechende Analyse der beiden Werke, sondern eine beispielhafte Untersuchung dazu, was «Afrika» für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutet.
Dietrich Heißenbüttel