Gubaidulina, Sofia
Am Rande des Abgrunds (2002) für sieben Violoncelli und zwei Aquaphone / De Profundis (1978) für Akkordeon Solo / Quaternion (1996) für vier Violoncelli / In Croce (1979/92) für Violoncello und Akkordeon
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5
Gibt es so etwas wie den «Geist» eines Instruments? Und wenn, was meint z. B. der Geist des Akkordeons dazu, wenn seine Tasten und Knöpfe mit einer drei- oder vierstimmigen Fuge von Bach oder mit einem Prelude von Debussy malträtiert werden? Nun, die Geister mancher so genervter «folkloristischer» (wirkt das Wort nicht eher banalisierend als multikulturell aber wird die Sache wirklich besser, wenn wir es durch «ethnisch» ersetzen?) Instrumente haben in Sofia Gubaidulina endlich ihre menschliche Plattform gefunden, den Schubladen der akademischen Hochkultur eins auszuwischen und ihren subkulturellen Verliesen zu entfleuchen. Der stets direkt zupackende, radikal-haptische musikalische Ansatz der Komponistin versteht die Instrumente als lebendige Körper, deren Aktivität im klassischen Repertoire bislang höchst einseitig genutzt war dabei ist es oft gerade der Kontrapunkt aus Archaik und Kunstfertigkeit, aus instrumentaler Praxis und kompositorischem Kalkül, der den besonderen Reiz der Musik Gubaidulinas ausmacht.
In diesem Sinne wirken die geisterhaft aufsteigenden Choralmelodien zwischen den noch ungezähmten und unzivilisierten Klängen und Geräuschen nicht stilbrüchig, sondern wie assoziative Wegweiser aus der Vergangenheit und vielleicht auch Zukunft der Kultur etwa in De Profundis, ihrem meistgespielten Werk für Solo-Bajan oder Akkordeon, hier von Stefan Hussong in beispielloser Tiefenschärfung der Klänge dargeboten. Zusammen mit dem Cellisten Julius Berger setzt auch Hussongs Interpretation des nicht minder beinahe populären In Croce Maßstäbe.
Auch die beiden neueren Werke der CD dokumentieren Gubaidulinas Klang- und Sound-Forschungen, wobei die im besten (Schillerschen) Sinne «naive» Künstlerpersönlichkeit der Komponistin dafür sorgt, dass hier wirkliche Musik entsteht und nicht nur eine avantgardistische Enzyklopädie klanglicher Möglichkeiten. So steht in ihrem Werk für sieben Celli und zwei Aquaphone das Wort «Abgrund» zunächst einmal, wie Gubaidulina selbst sagt, für die Zone zwischen Griffbrett und Steg eines Streichinstruments die Sphäre, die vom instrumentalen Ansatz her das höchste Register anruft, also keineswegs einen klanglichen «Abgrund». Aber, und das gehört gewiss auch zum geistigen Profil der Musik, «Abgrund» ist immer auch das Diesseits, der Ort des Hier-Seins, an dem die Musik «gehört» wird, aber an dem sie sich nicht eigentlich wirklich befindet. So verstanden sind Komponist bzw. hier Komponistin immer Personen, die am «Am Rande des Abgrunds» agieren und die mit ihrem «Tasten» ob nun eher haptisch oder intellektuell-konstruktiv das Unsichtbare ertasten, das sich hinter der tonalen oder atonalen Fassade der Töne und Klänge verbirgt.
Hans-Christian von Dadelsen