Herzfeld-Schild, Marie Louise

Antike Wurzeln bei Xenakis

Verlag/Label: Franz Steiner, Stuttgart 2014, 276 Seiten, 46 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 93

Die leitende Hypothese der vorliegenden Arbeit, Xenakis’ komposi­torisches Schaffen habe Wurzeln, die in der griechischen Antike gründen, findet in den Gesprächen, die der Komponist mit Bálint András Varga geführt hat, auf paradoxe Weise zugleich ein Contra und ein Pro. Xenakis’ brüsker Zurückweisung des Wunsches nach musikalischer Verwurzelung («Ich will keine Wurzeln haben!») nämlich scheint eine Utopie zu widerstreben, die diesen «Griechen im falschen Jahrtausend» zeitlebens umgetrieben hat: der Wunsch, frei von allen Bindungen und Voraussetzungen eine Musik zu schaffen, «die jede Form des Ausdrucks in sich schließt». Das aber setzt die Erforschung eines Gemeinsamen voraus, das der Musik aller Zeiten und Kontinente zutiefst eingeschrieben ist, und so geht der Komponist auf die Suche nach der allgemeinsten universellen Wurzel der Musik. Da­mit ist die Basis seiner Antikenrezeption bereits bezeichnet, denn Xenakis nähert sich den antiken Denkern nicht nur mit musikontologischen Fragestellungen, sondern auch mit Blick auf die «Schaffung einer höheren Abstraktionsstufe».
Inwieweit die antiken Bezüge auch als Wurzeln für Xenakis’ Kompositionen fungieren, ist eine der zentralen Fragen von Marie Louise Herzfeld-Schild. Da Xenakis’ Antikenrezeption wie auch der Ursprung seines axiomatisch-formalistischen musikalischen Denkens vor allem in seinen Schriften festzumachen sind, liegt auf ihnen auch der Schwerpunkt dieser Untersuchung, die insbesondere die Verbindung von Xenakis’ Ästhetik mit der antiken Musiktheorie (Aristoxenos), Philosophie (Parmenides) und Mathematik (Pythagoras) erhellt. Drei Exkurse zu Schlüsselwerken von Iannis Xenakis ziehen die Spur in das kompositorische Œuvre aus:
(1) In Nomos Alpha für Cello solo von 1956 – Aristoxenos von Tarent und den Mathematikern Evariste Galois und Felix Klein gewidmet – wendet Xenakis erstmals seine Siebtheorie an und stellt damit die Verbindung von Musik, Musiktheorie und Mathematik heraus: Titel und Widmung sind Programm.
(2) Eonta für Klavier und fünf Blechbläser von 1964 ist Par­menides gewidmet und steht mit seinem Titel (dt. «Seiende» = seiend in der Mehrzahl) zugleich der Ontologie des vorsokratischen Philosophen entgegen: für Parmenides ist das Sein allumfassend und daher als Mehrfaches undenkbar – Eonta also Widmung und Widerspruch zugleich.
(3) Der Titel der elektroakustischen Kom­position La Légende d’Eer (1977) verweist auf den Mythos des Er in Platons Politeia, der den Zusammenhang von Leben und Jenseitserfahrung mit einer Beschreibung des Aufbaus von Himmel und Erde engführt, und auch Xenakis widmet der Koinzidenz von Seelenlehre und harmonischer Ordnung des Kosmos besondere Aufmerksamkeit.
In einer Coda semiseria möchte Marie Louise Herzfeld-Schild die antiken Wurzeln bei Iannis Xenakis als «Luftwurzeln» aufgefasst wissen: «Sie ermöglichten seinen Gedanken eine große Bewegungsfreiheit auf ih­rer Suche nach ‹Nahrung› und konnten ihnen gleichzeitig zusätzlichen Halt und ‹Klettermöglichkeiten› bieten.» Das ist wohl – sehr frei nach Leibniz – die beste aller möglichen Volten, mit der ein aufmerksamer Leser dieser ebenso inspirierten wie höchst profunden Untersuchung entlassen werden kann.

Peter Becker