Stenzl, Jürg

Auf der Suche nach Geschichte(n) der musikalischen Interpretation

Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2012 | 211 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 91

Die Geschichte der Musik einmal nicht als Werk-, Kompositions-, Sozial- oder Kulturgeschichte zu schreiben, sondern als Geschichte der musikalischen Interpretation, stellt vor besondere Herausforderungen. Denn Musik ist eine flüchtige Kunst, die sich erst am Schluss einer Aufführung vollendet, und dann im selben Moment verschwunden ist: aus und vorbei. Klingende Mu­sik lässt sich erst seit Edisons Erfindung des Phonografen 1877 dokumentieren. Seitdem wurde die Vergangenheit zur Gegenwart. Während zuvor nur gerade aktuell komponierte Musik gespielt wurde, wurden im Zuge des Historismus des 19. Jahrhunderts die Oratorien Händels, Streichquartette Haydns, Opern und Sinfonien Mozarts und vor allem Beethovens Instrumentalwerke zu tragenden Säulen des klassischen Opern- und Konzertrepertoires – und sind es bis heute geblieben.
Die daraus resultierenden Probleme, Fragen und Methoden einer «Geschichte der musikalischen Interpretation» skizziert Jürg Stenzl in den ersten Kapiteln seines Buches, dessen alternativer Plural «Geschichten» zugleich den Fokus auf konkrete Fallbeispiele lenkt. Generell klassifiziert der Salzburger Emeritus drei Interpretationsweisen: 1. den von Richard Wagner exemplarisch formulierten «espressivo»-Ansatz mit Tempomodifikation und flexiblem Phrasierungsrubato, wie ihn noch Mahler, Weingartner, Mengelberg und Webern zu Beginn des 20. Jahrhunderts pflegten; 2. den «neusachlichen» Ansatz Strawinskys, der in den 1920er Jahren statt mitfühlender «interprétation» eine strikte «exécution» des Notentextes forderte, was erstmals von Dirigenten wie Klem­perer, Scherchen und Toscanini umgesetzt wurde; 3. den «restaurativen» bzw. «historischen» Ansatz, der Musik mit den zu ihrer jeweiligen Entstehungszeit eigenen Instrumenten und üblichen Praktiken aufzuführen sucht.
Dass die acht Aufsätze im Laufe eines größeren Zeitraums entstanden, hat zur Folge, dass der erstmals 1988 erschienene Beitrag «Claudio Monteverdi im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit» inzwischen zu Teilen bereits veraltet ist. Stenzl diskutiert hier zwar grundsätzliche Fragen der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte am Beispiel dieses Komponisten, der nach langer Vergessenheit ab 1881 zunächst als Opernkomponist wiederentdeckt und vielfach bearbeitet wurde, dann aber durch Harnoncourts legendäre Züricher Opernproduktionen in den 1970er Jahren über Schallplatte und Film in erster Linie medial rezipiert wurde. Als überholt erweisen sich jedoch Statistiken über Tonträger-Absätze sowie die These, die «Barockwelle» seit den 1950er Jahren würde kaum Vokalmusik umfassen, was Sängerinnen wie Cecilia Bartoli, Simone Kermes oder Countertenor-Stars wie Philippe Jaroussky längst widerlegt haben.
Thematische Einheiten bilden je drei Kapitel zu Herbert von Karajan und Debussy-Interpretationen. Letztere versteht Stenzl als «Reaktion auf die Regermanisierung der deutschsprachigen Musikwissenschaft in den letzten zehn, fünfzehn Jahren», von der man doch gerne gewusst hätte, woran sie festzumachen ist. Wünschenswert wäre auch ein sorgfältigeres Lektorat gewesen.

Rainer Nonnenmann