BIRDCAGE, 73’20.958 for a Composer

Filmcollage von Hans G Helms | 74 min.

Verlag/Label: Wergo MV 08065
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 76

Kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat so zielstrebig die neuen Medien in sein Schaffen einbezogen wie John Cage, wobei der Begriff «neue Medien» zeitlich so variabel zu verstehen ist wie seine Ästhetik – er reicht vom Plattenspieler der 1930er Jahre über Tonband und Radio, den Film und die Analog-Elektronik bis zum Computer der 1980er Jahre. Nicht zu vergessen die traditionellen Druckmedien, mit denen Cage seine Grafiken und Radierungen herstellte. Alle Entwicklungsstufen und Erscheinungsformen der rasant sich verändernden Medienlandschaft hat er für seine Arbeiten genutzt. So erstaunt es auch nicht, dass die mediale Produktion im zu Ende gehenden «Cage-Jahr», in dem der 90. Geburts- und der 20. Todestag des amerikanischen Komponisten «gefeiert» wurden, auf Hochtouren lief. Neben den zahlreichen CD-Aufnahmen, Publikationen und Aufsätzen sind die Filme von besonderem Interesse, ist doch das audiovisuelle Medium am besten in der Lage, eine so komplexe Erscheinung wie John Cage es war, dokumentarisch zu erfassen.
Die Filmcollage, die Hans G Helms 1972 für das Westdeutsche Fernsehen herstellte, ist eine Mischung aus Dokumentation und Autorenfilm mit autonom künstlerischem Anspruch. Sie entstand größtenteils in New York und porträtiert den Komponisten aus den unterschiedlichsten Perspektiven: zu Hause am Schreibtisch, im Gespräch mit Freunden, im elektronischen Studio der Universität Albany, wo er seine Komposition Birdcage produzierte, bei Proben und Konzerten, in Gesprächen über Pilze und in rekonstruierten Szenen von seinen his­torischen Auftritten in Donaueschingen und Darmstadt. Einige historische Dokumente sind kurz eingeblendet, so ein Probenausschnitt von 1958 in Köln, wo Cage mit den Musikern des WDR-Orchesters sein Klavierkonzert einstudiert.
So vermittelt der Film nicht nur ein facettenreiches Bild der unerhört vielseitigen Aktivitäten Cages, sondern er gewährt auch einen interessanten Einblick in seinen Tagesablauf und in die kompositorische Werkstatt. Die zielgerichtete Genauigkeit seiner künstlerischen Methoden kommt darin ebenso zur Darstellung wie das gesamte Weltbild, in die sie eingebettet sind. Auf bemerkenswert klare Weise begründet er seinen Schritt hin zum zufallsgesteuerten Komponieren, er schildert den Zwiespalt zwischen Reden, Schreiben und Konzertieren einerseits und der schöpferischen Arbeit des Komponierens andererseits und erläutert, warum die Entscheidungsfreiheit des Interpreten auf der Bühne eine innere Freiheit zur Voraussetzung hat.
Auch der Moralist Cage kommt zu Wort, wenn er, ganz in der Tradition des Ostküsten-Puritanismus, feststellt, in Staat und Gesellschaft gebe es gegenwärtig «nichts, worüber man sich nicht schämen müsste». Daraus schließt er, die einzige Möglichkeit, sich anständig zu verhalten, sei die Arbeit an der «Revolution», und hält ein Plädoyer für Mao Tse-tung. Das ist 1972 zwar verständlich angesichts des Viet­namkriegs und charakteristisch für große Teile der bürgerlichen Intelligenz im damaligen Westeuropa und Amerika, doch aus der heutigen Sicht, da die Taten des Massenmörders Mao aktenkundig sind, zeugt es von einer grandiosen Naivität. Helms hat das wohl schon damals geahnt, denn er breitet gnädig den Mantel des Nichtverstehens über der entsprechenden Interviewpassage aus, indem er zu Cages Technik der Überlagerung greift und mehrere Sätze gleichzeitig erklingen lässt.
Überhaupt lehnt sich Helms über weite Strecken an die künstlerischen Verfahren Cages an; er montiert Bilder, Sprache, komponierte Töne und Umweltgeräusche auf scheinbar zufällige Art übereinander und zerstückelt den Zeitverlauf zumeist in sehr kurze Sequenzen. Die Schnitttechnik mit ihrem dauernden Springen von einem Mo­tiv zum anderen wirkt auf Dauer etwas ermüdend, zumal in Verbindung mit der extrem unruhig geführten Handkamera, die vieles verwackelt und Cages Gesicht oft aus so indiskreter Nähe abtastet, dass man die einzelnen Barthaare darin zählen kann.
Eine innere Logik ist in diesem visuell-akustischen Patchwork gleichwohl spürbar, da die verschiedenen, ineinander verwobenen Erzählstränge über längere Zeit durchgehalten werden. Eine dieser Schichten zeigt einige Momente aus der Entstehung der Tonbandkomposition Birdcage, die dem Film den Namen gegeben hat. Parallel dazu, als eine Art Running Gag, erscheinen immer wieder Aufnahmen von Vögeln, einmal im Käfig, einmal in der Freiheit der Natur; kontrapunktiert wird das mit Bildern von Menschen hinter den allgegenwärtigen Gitterzäunen und Absperrungen im New Yorker Alltag. Mit der permanenten Käfigsymbolik lässt Helms auf unübersehbare Weise seine eigenen politischen Überzeugungen in das Porträt einfließen. Ob damit nun eine leise Kritik an Cages romantischem Revolutionsbegriff oder vielmehr dessen Untermauerung durch Fakten gemeint ist, bleibt offen. Das wäre indes der einzige Widerspruch in einem materialreichen Film, in dem sich der Autor und sein Gegenstand denkbar nahe sind.

Max Nyffeler