Kagel, Mauricio

Chorbuch / Les Inventions d’Adolphe Sax

Verlag/Label: Winter & Winter 910 191-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 3
Booklet: 2

Wenn es je einen postmodernen Komponisten (im positiven Sinne eines fragwürdigen Begriffs) gegeben hat, dann Mauricio Kagel. Wie geistreich, fantasievoll und letztlich auch immens musikalisch sich der gebürtige Argentinier mit der europäischen Tradition auseinandersetzte, war schon einzigartig. Neben Beethoven und Brahms war es vor allem Johann Sebastian Bach, der eine feste Größe in Kagels «Musik über Musik»-Laboratorium darstellte und zahlreiche kompositorische Auseinandersetzungen provozierte.
«Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle», schrieb Kagel über die Skizzen seiner Sankt-Bach-Passion (1981/85), und weiter: «Der Gedanke animierte mich, eine Leidensgeschichte zu komponieren, gleich einer Heiligsprechung für die einzige Figur, die meine Zunft ohne Widerspruch einigt.» Die Widmung der Partitur lautete schließlich: «IHM untertänigst in tiefer Devotion verfertigt und zum Andenken gewidmet.» Natürlich war Kagels Bach-Verehrung genauso janusköpfig und ambivalent gestrickt wie deren musikalische Resultate. Eine wichtige Station auf dem Weg zur späteren Passion war das Chorbuch (1975/78), das Bach mit der Bearbeitung von 53 Chorälen die Ehre erwies, die der Emotionalität der Vorlagen auf der Spur war, ohne sich eklektizistisch anzubiedern. Kagel erreichte dies durch gezielte Verfremdungen der Artikulation und Harmonik, welche die Tonalität ent-funktionalisierte und den Bach-Satz zugleich modal und chromatisch manipulierte. Heraus kam eine surreale «Parodie» von wunderbarer Intensität, die den Geist der Vorlage mit neuen Mitteln in die Gegenwart denkt und leider – auch von den progressiveren Chorleitern dieser Tage! – nie eingespielt wird.
Umso bedauerlicher, dass bei dieser raren Gelegenheit nur eine Auswahl von 16 Stücken Berücksichtigung fand. Dennoch kommt der Produktion mit dem hervorragenden Nederlands Kamerkoor der Nimbus eines Vermächtnisses zu, handelt es sich doch um die letzte Aufnahme, an der Kagel mitwirkte und das nicht nur als Dirigent. Im Chorbuch lässt er es sich nicht nehmen, das zehnte Stück selbst vorzu­tragen, was diesen todesschwangeren «Übermalungen» kurz vor Kagels Tod eine besondere Tiefe und Abgründigkeit verleiht. Die besondere Intensität dieser Aufnahme bleibt in jedem Choral spürbar, weil der Niederländische Kammerchor aus dieser mal melancholischen, mal fratzenhaften Bach-Rezeption unter Kagels Leitung durchweg suggestives Vokal-Theater macht.
Auch Les Inventions D’Adolphe Sax (2004/05), eine verspielt impressionistische Hommage an den Erfinder des Saxofons, kommen ungemein frisch und lebendig daher. Dennoch zwei Mankos: Das relativ undifferenzierte Klangbild wird der expressiven Vielfalt des Chorbuchs nur bedingt gerecht; im Book­let ist kein einziger Text vorhanden. Ein Unding bei einer Veröffent­lichung mit so interessanten Vokalwerken …

Dirk Wieschollek