Goehr, Alexander
Colossos or Panic / The Deluge / Little Symphony
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4
Im August 2012 feierte Alexander Goehr seinen 80. Geburtstag. Der Brite ist der älteste jener drei Komponisten, die in den 1950er Jahren als «Manchester Group» Furore machten zu einer Zeit, als in England (wohin Goehr mit seiner Familie 1933 aus Berlin emigriert war) die Neue Musik des europäischen Kontinents noch kaum wahrgenommen wurde. Gemeinsam mit Peter Maxwell Davies und Harrison Birtwistle begründete er in Manchester, wo alle drei studierten, eine Avantgarde auf britischem Boden. Anders als die Werke seiner beiden Kollegen wird jedoch Goehrs Musik bei uns nur unzureichend wahrgenommen. Vielleicht liegt es daran, dass Goehr einerseits den archetypischen Platz zwischen zwei Stühlen eingenommen hat zu «modern» für konservative Hörer, zu traditionsverbunden für Anhänger der Avantgarde , andererseits sich seine Tonsprache aller spektakulär-theatralischer Elemente, wie man sie etwa bei Davies und Birtwistle findet, verweigert.
Goehrs stete Beschäftigung mit der Tradition zeigt sich insbesondere in den beiden frühen Werken der vorliegenden CD. Die Kantate The Deluge («Die Flut») nach einem Text von Leonardo da Vinci war das Werk, das Goehrs Namen 1959 einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Bezüge zur Klangwelt Weberns und Boulez verbinden sich mit individuellen Anverwandlungen barocker Formmodelle. Goehrs unverwechselbare kompositorische Physiognomie zeigt sich dann in der 1963 vollendeten Little Symphony, und zwar sowohl in der beinahe klassischen Zurückhaltung in Orchestrierung und Tonsprache als auch im konkreten Bezug auf Schönberg, aus dessen Kammersinfonie op. 9 im Finale direkt zitiert wird. Schönberg war für Goehr stets ein Vorbild; sein Vater Walter, in dessen Andenken die Sinfonie (die übrigens mit einer knappen halben Stunde gar nicht so klein ist, wie der Titel glauben macht) entstand, war Schüler Schönbergs und vermittelte Alexander dessen Gedankenwelt.
Einer späteren Schaffensperiode entstammt Colossos or Panic, vollendet 1992, ein zweisätziges Orchesterwerk, das seine Inspiration von einem Gemälde Goyas empfing. In vielerlei Hinsicht ist es das für Goehr typischste Werk dieses Programms, und in seiner farbigen Instrumentation sowie der stets spürbaren unterschwelligen Aggressivität auch das faszinierendste. Wie so oft in seinem uvre stellt Goehr hier ein kontrastierendes Satzpaar nebeneinander, und das Element des Kontrasts zweier scheinbar unvereinbarer Elemente nämlich Dynamik und Statik prägt auch die Tonsprache des Werks: Immer wieder beißt sich die Musik in trotzig wiederholten Rhythmen und motivischen Figurationen fest, die eine Entwicklung geradezu mit Gewalt zu verhindern suchen, bis sich die Energie am Schluss verbraucht hat. Es ist zu bedauern, dass diese Komposition wie überhaupt das Goehrsche Orchesterschaffen viel zu selten zur Aufführung gelangt. Oliver Knussen setzt sich hier nicht zum ersten Mal tatkräftig und rundweg überzeugend für Goehrs Musik ein.
Thomas Schulz