Schnittke, Alfred

Complete Piano Music

Verlag/Label: 2 CDs, Delphian DCD 34131
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 83

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Wer hätte gedacht, dass das Land der Folk Music, der gälischen und schottischen Balladen, der Fidel und des Dudelsacks einen Klaviervirtuosen vom Range eines Simon Smith hervorbringen würde? Eben dreißig Jahre alt, veröffentlichte er bereits vier CDs mit Klaviermusik seiner originellsten Landsleute, darunter Thomas Wilson, James MacMillan, William Sweeney und der seit Langem in Edinburgh lebende Isländer Hafliði Hallgrímsson.
Inzwischen machte er sich auch das gesamte Klavierschaffen des Deutsch-Russen Alfred Schnittke künstlerisch zu eigen. Fünfzehn Jahre nach dessen Hinscheiden hat er nun fünfzehn Werke aus verschiedenen Lebensphasen beispielhaft eingespielt: mit kontrollierter Leidenschaft, virtuosem Feinschliff und atmender Musikalität. Wobei seinen Interpretationen entschieden zugute kommt, dass er auch Komposition studierte und – wie die Tonkünstler ehedem – immer wieder selbst Musik ersinnt. Dass er die Notentexte nicht nur gewandt «durchfingert», sondern stets auch analysiert, sie nach Sinn und Form bzw. nach dem Sinn ihrer Form fragt, verschafft dem Hörer ein hochkonzentriertes Musikerlebnis.
Dazu passt, dass der Meister aus Schottland es sich nicht nehmen lässt, sein luzides Klavierspiel auch gleich selbst zu kommentieren: mit erhellenden Einblicken in die Lebensumstände des Komponisten, soweit sie Geist und Buchstaben seiner Musik beeinflussten. Gehört es doch zur Tragik Schnittkes, dass eine fatale Serie von Schlaganfällen sein späteres Schaffen zunehmend beeinträchtigte. Als Pianist sei Schnittke zu Moskauer Studienzeiten durchaus befähigt gewesen, Konzerte von Schumann und Rachmaninow zu spielen, hebt Smith hervor. Er attestiert dem Komponisten, der seit 1961 mit einer Konzertpianistin verheiratet war, «eine besondere physische Beziehung zu dem Instrument». Wobei er nicht nur die Finger des Pianisten beanspruche, sondern auch «alle Hand- und Armpartien» (eine Anspielung auf Schnittkes extensiven Cluster-Einsatz). Sogar seine enggestrickten Kanons blieben pianistisch immer darstellbar.
Schnittkes gewichtigste Klavierwerke sind die drei Sonaten von 1987, 1990/91 und 1992. Die letzte – wieder in der bevorzugten Tempofolge langsam – schnell – langsam-schnell – lässt in ihrer Kargheit und Zurückgezogenheit an das Schlusswort aus Adornos Beethoven-Aufsatz denken: «In der Geschichte von Kunst sind Spätwerke die Katastrophen.»
Dass sich Schnittke in jüngeren Jahren auch mit – in der damaligen Sowjetunion verteufelten – seriellen Techniken befasste, belegen zwei Fugenwerke aus den 1960er Jahren. Auf der anderen Seite war er sich nicht zu schade, Kinderstücke zu komponieren (wie auch Dmitri Schostakowitsch oder Witold Lutoslawski): 1971 für seinen Sohn Andrej und 1994 für seine Enkelin und deren Großmutter (nämlich seine Frau Irina). Neben der sechshändigen, kurios zitatgespickten Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch von 1979 erstaunen und begeistern vor allem die fantasievollen Solokadenzen zu Mozarts Klavierkonzerten KV 39, 467, 491 und 503.

Lutz Lesle